»Anna, wie ist eigentlich Schnee?«, fragt mich der kleine Miguel, als ich mich auf sein Bett setze, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Ich grinse. »Den habe ich auch schon eine Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen«, erwidere ich und fange an zu erzählen. Nach meinem Abitur habe ich ein Jahr lang einen Freiwilligendienst in Bolivien gemacht. Meine Entsendeorganisation Don Bosco Volunteers begleitet jedes Jahr um die 50 junge Menschen über ›weltwärts‹, den entwicklungspolitischen Freiwilligendienst des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, in die weite Welt. Auf den drei Vorbereitungsseminaren konnte ich mehr über mich selbst und Themen wie Rassismus, Kulturen und Kolonialismus, den Umgang mit Schutzbefohlenen sowie möglichen kritischen Situationen lernen und viele inspirierende Menschen in mein Herz schließen. In dieser Zeit wurde ich ein Teil der großen ›Don Bosco Familie‹.
Geräusche, Gerüche, Farben
Ich durfte Santa Cruz de la Sierra im tropischen Tiefland Boliviens ein Jahr lang mein Zuhause nennen. Dort habe ich mit Freiwil ligen aus Deutschland, Italien, Spanien, den Niederlanden und Mexiko in einer WG gewohnt. Alleine war ich nie – wir sind schnell zu einer kleinen Familie zusammengewachsen. Am Anfang prasselten viele neue Eindrücke auf mich ein: hupende Taxis, Essensstände auf den Straßen, Minibusse, der heiße Wind, der einem den Sand in die Augen weht. Wir wohnten direkt neben einem der großen, bunten Märkte, auf dem es wirklich alles zu finden gab: von Obst, Gemüse, Brot und Fleisch über DVDs, Hygieneartikel und Schreibsachen bis hin zu Kleidung und Spielzeug. Es war sehr schön, auf den Markt zu gehen, bei unseren üblichen Ständen einzukaufen, sich ein bisschen mit unserer Lieblingsobstverkäuferin zu unterhalten und zwischen den bunten Leckereien zu verweilen.
40 Kleine Brüder
Gearbeitet habe ich im Hogar Don Bosco, einem Heim für Jungen von fünf bis 16 Jahren. Sie wohnen aus unterschiedlichen Grünen dort: Viele von ihnen haben keine Eltern mehr, wurden im Alltag mit Gewalt konfrontiert oder lebten auf der Straße. Dank ihnen lernte ich die spanische Sprache vor Ort. Es war nicht ganz einfach, aber mit Mut und Disziplin bekam ich das schnell hin. Den Kind hat es Spaß gemacht, mir neue Wörter mit Händen und Füßen zu erklären. Am Anfang sahen sie für mich alle gleich aus: 40 Jungs auf einem Haufen. Ich fragte mich, ob ich jemals ihre Namen lernen würde. Mittlerweile kenne ich nicht nur die, sondern auch jedes Gesicht in all seinen Launen. Die Jungs von der Schule abholen, fangen spielen, Shampoo auf 40 Köpfen verteilen und aufpassen, dass keine Wasserschlacht in den Duschen veranstaltet wird, zusammen essen, beten, basteln – es gab immer was zu tun.
Von den Kindern Geschichten zu hören, die ich mir selbst nur schwer ausmalen kann, und Verhaltensweisen, die einen nachdenklich machen – da kommen Wut und Unverständnis auf. Ich fragte mich: Wie können Menschen ein Kind so behandeln? Warum leben hier so viele Kinder auf der Straße? Ändern konnte ich daran nichts, aber ich bin froh, dass die Jungs ein Zuhause gefunden haben, zur Schule gehen können und keine Existenzängste haben müssen.
Tag für Tag schloss ich die Jungs mehr in mein Herz. Ich durfte sie kennenlernen, mit all ihren Geschichten, Eigenheiten, Ängsten und Talenten. Sie wussten, wie sie mich auf die Palme bringen können und ich weiß es von ihnen – meinen 40 kleinen Brüdern.
Ich bin sehr dankbar für dieses prägende, bereichernde Jahr und die wertvollen Erfahrungen, die ich sammeln durfte. Am Ende verging die Zeit leider viel zu schnell – ich hätte sie gerne noch ein wenig festgehalten und denke gerne an sie zurück. Sicherlich habe ich dort mehr zurückbekommen als ich geben konnte. Ich hoffe, all die liebgewonnenen Menschen bald wiedersehen zu können.
»Diese Kinder sind wie Edelsteine, die auf der Straße liegen. Sie müssen nur aufgehoben werden und schon leuchten sie.« – Don Bosco