Herr Dr. Wagner, 2018 hat der chinesische Biophysiker He Jiankui verkündet, dass die ersten, mithilfe der Genschere CRISPR/Cas9 genetisch veränderten Babys geboren wurden. Wie können sich unsere Leser die Genschere vorstellen?
"Sie besteht aus Proteinen, die an bestimmten Stellen DNA binden und dort Reaktionen vermitteln, wie Brüche im DNA-Strang. Dabei gibt es Anteile, die den eigentlichen Schnitt katalysieren und Anteile, die für das Targeting zu den bestimmten Regionen relevant sind. Insbesondere bei CRISPR/Cas9 gibt es eine Nukleotidsequenz, die für das Targeting zu bestimmten Bereichen besonders gut geeignet ist. Diese ›Guide-RNA‹ ist eine Nukleinsäuresequenz, die separat zugegeben werden kann. Ihre spezielle Fähigkeit ist, dass sie – wie die DNA – komplementäre Strukturen verknüpfen und dadurch eine sehr gezielte Bindung erreicht werden kann."
Die Funktionsweise der Genschere ist selbst nach 30 Jahren Forschung noch nicht völlig erschlossen. Wie weit ist die Grundlagenforschung derzeit?
"Im Vergleich zu den Technologien von vor zehn Jahren hat eine kleine Revolution stattgefunden: Die Anwendungen sind sehr viel einfacher und genauer geworden. Gensequenzen lassen sich immer gezielter und effizienter adressieren, da die Technik zunehmend ausgefeilter und gleichzeitig die Nachweismethoden und Sequenzierverfahren sensitiver werden. Trotzdem können biologische Prozesse nie zu hundert Prozent kontrolliert werden."
Was ist das Besondere an der neuen Technologie?
"Sie ist für die Wissenschaft sehr attraktiv, da Proteine nicht mehr einzeln neu generiert werden müssen und die Guide-RNAs verhältnismäßig einfach zu designen sind."
Wie genau funktioniert der Einsatz der Genschere?
"CRISPR/Cas9 bietet die Möglichkeit, gezielte Schnitte in der DNA vorzunehmen und Sequenzen herauszuschneiden oder zu erweitern – wie ein Schnürsenkel, der an bestimmten Stellen geschnitten wird. Im Gegensatz zum Schnürsenkel hat die DNA aber die Eigenschaft, dass sie zeitlebens repariert wird. Gibt es Schnitte oder Brüche an der DNA, versuchen Enzyme, den Strang zu reparieren. Wurden Gensequenzen abgetrennt, fehlt dieser Bereich einfach. So können Gensequenzen gezielt und relativ einfach herausgeschnitten werden. Das Einfügen von veränderten Sequenzen ist dagegen komplizierter."
Kommen wir zurück zum chinesischen Biophysiker He Jiankui. Was sagen Sie zu seinem Forschungsprojekt?
"Diese Anwendung war unnötig, riskant und verantwortungslos. Noch dazu ist gegen alle wissenschaftliche Konventionen, so etwas per YouTube-Video zu veröffentlichen. Mir ist bis heute keine Publikation bekannt, die besagt, dass diese Kinder die entsprechenden Modifikationen haben. Obwohl das Vorgehen ein Super- GAU war, hat gerade diese dilettantische Weise der Bevölkerung die Augen geöffnet. Es ist sehr wichtig, dass diese Diskussion jetzt geführt wird – und zwar ehrlich und informierend. Es sollte nicht von vornherein feststehen, dass Gentechnik per se negativ ist."
Sind Eingriffe in die menschliche Keimbahn – also weitervererbliche Genmanipulation – überhaupt vertretbar?
"Zum jetzigen Zeitpunkt, ohne ein sehr kritisches Abwägen von Nutzen und Risikos, dürfen solche Eingriffe natürlich nicht erfolgen. Bei Keimbahneingriffen wird nicht nur das einzelne Individuum verändert, sondern der Genpool: Damit weisen auch die Nachkommen entsprechende Veränderungen auf. Bevor wir die Frage, ob die weitervererbliche Genmanipulation tragbar ist, beantworten können, muss jedoch eine breite, wissenschaftliche und auch ethisch-gesellschaftliche Debatte stattfinden. Da schwerwiegende Erbkrankheiten in der Regel durch die Präimplantationsdiagnostik ausgeschlossen werden können, sind Keimbahneingriffe ohnehin nicht notwendig. Dennoch sollten sie zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht kategorisch abgelehnt werden."
Welche Gefahren gehen von Eingriffen in die menschliche Keimbahn aus?
"Die Gefahr bei ›Off-Target-Effekten‹ ist, dass unbeabsichtigt zusätzliche Sequenzen im Genom modifiziert werden. Solche geringfügigen Veränderungen sind häufig nicht kritisch, aber wenn es dabei um neugeborene Menschen geht, stellt dies eine große Gefahr dar. Ausschließen lässt sich so etwas allerdings schwer, da der Einsatz der Genschere oft nach der ersten Zellteilung stattfindet. So kann es zu einer Mosaikbindung kommen, bei der nicht alle Zellen eines Organismus die gleichen genetischen Veränderungen tragen. Das lässt sich auch durch Sequenzierungen nicht mehr so leicht nachvollziehen, da hier immer nur bestimmte Zellen untersucht werden."
Wie kann sichergestellt werden, dass solche Eingriffe nicht wieder stattfinden?
"International ist dies rechtlich leider kaum steuerbar. Selbst in Europa ist die Rechtslage schon so divers, dass viele Dinge noch gar nicht abgedeckt sind. Ganz machtlos stehen wir aber nicht da: Staaten haben die Möglichkeit, Druck auf andere Staaten auszuüben."
Sollten Eingriffe an Embryonen zu reinen Forschungszwecken dennoch erlaubt sein?
"Auch das ist eine Grundsatzfrage, die nicht leicht mit Ja oder Nein zu beantworten ist. In wenigen Fällen, etwa in England, gibt es Ausnahmegenehmigungen, um unter strikten Vorkehrungen Aspekte der frühen Embryonalentwicklung besser zu verstehen. Dabei geht es beispielsweise auch darum, warum manche Paare keine Kinder bekommen können. Allgemein muss die Möglichkeit aber sehr restriktiv gehalten werden – ich persönlich habe Bauchschmerzen, wenn an humanen Embryos geforscht wird."
Dem Deutschen Ethikrat zufolge wären Eingriffe in die Keimbahn auch möglich, um bestimmte Eigenschaften oder Fähigkeiten zu optimieren. Werden Biotechnik und Genmanipulationen am Menschen zu Konsumprodukten?
"Die Gefahr sehe ich schon. Natürlich nicht in nächster Zukunft, weil wir viel zu wenig über Intelligenz, Alterung oder die Resistenz vor Krebs wissen. Aber wenn diese Aspekte gezielt verändert werden könnten, dann ist der Schritt zur Anwendung kein großer mehr. Allerdings kann heute noch gar nicht überblickt werden, wohin die Reise geht."
Eingriffe am menschlichen Organismus sind das eine. Wie gefährlich für den Menschen ist dagegen die Genmanipulation bei Lebensmitteln, um sie geschmackvoller oder schädlingsresistent zu machen?
"Die Veränderungen an Pflanzen sehe ich auf einem anderen Blatt: Wir greifen schon seit Jahrtausenden in den Genpool von Pflanzen ein und rufen gezielt Mutationen hervor. Die Pflanzen, die heute auf den Feldern stehen, haben mit dem, was natürlich gewesen wäre, nichts mehr zu tun. Gerade in Deutschland ist es sicher so, dass bei der grünen Gentechnik Interessengruppen sehr starke Ängste geschürt haben, die ich wissenschaftlich so nicht nachvollziehen kann. Durch die bestehenden, gentechnisch veränderten Pflanzen besteht kein Risiko für unsere Gesundheit. Vielmehr kann durch sie eine nachhaltigere Landwirtschaft betrieben werden, was angesichts der explodierten Erdbevölkerung auch Chancen birgt. Wenn dann weniger Unkrautvernichtungsmittel oder Pestizide benötigt werden, ist das erst mal nichts Falsches. Die Pflanze ist natürlich verändert – aber mit dem Naturmais, wie er vor 20.000 Jahren existierte, könnten wir die Erdbevölkerung auch nicht mehr ernähren – Gentechnik per se ist nichts Schlechtes."