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Wie wird die Work-Life-Balance in Unternehmen gelebt?

Über Work-Life-Balance wird viel geschrieben und erzählt: Wir haben recherchiert, wie es in den Unternehmen wirklich aussieht

»Ich bin doch einer, der die Firma stützt und der sie hält, der nie auf krank macht oder so, der sich noch richtig quält. Hey Boss, ich brauch’ mehr Geld.« Während Gunter Gabriel 1974 um mehr Kohle bat, würde heute ein Großteil wohl – wenn er die Wahl hätte – mehr Freizeit bevorzugen. Denn freie Zeit ist vielen mehr wert als monetäre Vorteile:

Was Akademikern bei der Wahl des Arbeitgebers wichtig ist:

  • 85 Prozent achten auf eine gute Work-Life-Balance
  • 73 Prozent wünschen sich ein hohes Einstiegsgehalt

(Stand: 2011)

Die Zeiten von nicht endenden Arbeitstagen, vernachlässigten Sozialkontakten und unfreiwilligem Sparen, weil keine Zeit zum Geldausgeben da ist, kehren sich um. Was zählt, ist die qualitativ verbrachte Zeit. Auch die Wirtschaft hat erkannt, dass weniger gestresste Mitarbeiter die effektiveren Kräfte haben. Mittlerweile haben auch Einsteiger ein größeres Selbstbewusstsein dahingehend entwickelt, was ihnen wichtig ist:

»Aus den Gesprächen mit Beratern und Bewerbern hören wir immer öfter, dass ein ausgefülltes Privatleben ihnen ebenso wichtig ist wie Engagement im Beruf. Die Bewerber wollen flexibel sein und ihre breiten Interessen weiter verfolgen. Das wird heute ganz offen ausgesprochen und wir fördern das ganz bewusst«, erklärt Dr. Thomas Fritz, Director of Recruiting bei McKinsey & Company.

Mirko Kaminski kann dies nur bestätigen: »Die Zeiten, in denen Mitarbeiter nur für ihren Job leben und ihr Privatleben dafür opfern, sind vorbei«, erklärt der Inhaber und Geschäftsführer der Kommunikationsberatung achtung! und führt weiter aus, dass Bewerber aktiv nachfragen, was von ihnen erwartet wird – im Umkehrschluss möchten sie aber auch wissen, was für sie getan wird: »Sie sind nicht mehr bereit, für einen tollen Lebenslauf jahrelang auf ihr Privatleben zu verzichten«, fügt der 41-Jährige hinzu, der sich öffentlich gegen Ausbeuter-Agenturen und für eine ausgewogene Work-Life-Balance ausgesprochen hat.

'Personal Time' und Anti-Stress-Beratung

Wenn auch manche Projekte mehr Zeit erfordern – einen Ausgleich bieten viele Unternehmen. McKinsey hat jüngst die ›Personal Time‹ eingeführt, die den Beratern die Zeit gibt, privaten Interessen nachzukommen: »Jeder Consultant kann sich bis zu zwei Monate pro Jahr zusätzlich zum Jahresurlaub freinehmen. Er bekommt dabei sein Gehalt anteilig bezahlt und bleibt sozialversichert«, sagt Fritz. Kaminski hat die Stressverursacher direkt an der Wurzel gepackt, indem er die Agenturen an keinen Ausschreibungen und Pitches mehr teilnehmen lässt, die ihnen unprofessionell sowie unvorbereitet erscheinen und deren Teilnahme einem Lotteriespiel gleicht.

Alleine die Konzentration auf die Ausschreibungen, die achtung! mit hoher Wahrscheinlichkeit gewinnt, spart hunderte unnützer Überstunden jährlich. Aber auch in den eigenen Reihen wird vorgesorgt, indem die Führungskräfte intensiv geschult wurden: »Work-Life-Balance und Burn-out-Vermeidung sind in erster Linie eine Führungsfrage«, sagt der Geschäftsführer. Seit Januar 2011 können die Mitarbeiter zudem mit einer externen Anti-Stress-Beraterin Termine vereinbaren.  Anonym, versteht sich.
 

Work-Life-Balance: "Die Leistung ist der Maßstab"

Angst, dass der Chef komisch schaut oder Kommentare wie »Wie? Heute nur einen halben Tag?« fallen lässt, müssen Mitarbeiter bei achtung! nicht haben. Schließlich lebt Kaminski den geregelten Feierabend vor: »Ich halte nichts davon, Mitarbeiter nach abgesessenen Stunden zu beurteilen. Die Leistung ist der Maßstab.« Und dies unabhängig davon, ob eine weibliche Führungskraft in Teilzeit beschäftigt ist oder vom Home-Office aus gearbeitet wird.

Ein Blick in Konzerne zeigt, dass sich auch hier das Angebot sehen lassen kann. Bei Bosch existiert seit 1995 eine Betriebsvereinbarung zur Förderung und Regelung der Teilzeitarbeit. Mittels Langzeitkonten können Mitarbeiter Zeitguthaben ansammeln, um vorzeitig in den Ruhestand gehen zu können. Wie auch bei achtung! setzen die Führungskräfte ein Zeichen für flexibles Arbeiten. Zum 125-jährigen Firmenjubiläum 2011 initiierte das Unternehmen das ›Projekt MORE‹ (Mindset Organization Executives): »125 Führungskräfte, die aus allen Führungsebenen und Funktionsbereichen stammen, nutzen die Möglichkeit, mindestens 125 Tage lang flexibel von ihrem Homeoffice aus oder in Teilzeit zu arbeiten. Die gewonnene Zeit nutzten sie entweder für ihre Familie, engagierten sich in der Hochschularbeit, indem sie dort die beruflichen Perspektiven, die Bosch bietet, vorstellten, oder sie nahmen an einem Führungskräfteseminar zum Thema ›Selbstführung‹ teil«, beschreibt Karin Pardon, Referentin in der Personalentwicklung und verantwortlich für das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Das Projekt war ein voller Erfolg, was zu einer Weiterführung in den folgenden Jahren geführt hat.
 

Vereinbarkeit von Beruf und Pflege

Weiter geht es mit Angeboten zu Vereinbarkeit von Beruf und Pflege, Services für Familien, Kinderbetreuung oder Elternförderung. Während sich Unternehmen ihrer Verantwortung stellen, müssen dies aber auch die Arbeitnehmer: »Entscheidend ist die Eigenverantwortung jeder Person. Jeder ist selbst für seine Work-Life-Balance verantwortlich«, rät  Coach und Karriereberaterin Sandra Lange und betont, dass sich jeder Klarheit über seine eigene Ziele verschaffen solle. Wichtig sei, dass das Konto aus Karriere, Gesundheit, Beziehungen und Selbstverwirklichung ausgeglichen ist. Schließlich steht es sich einer alten Volksweisheit zufolge auf einem Bein schlecht. Außerdem macht Stress hässlich. Das glaubten zumindest 22,2  Prozent der Befragten vor ein paar Jahren. Und soweit muss es nun wirklich nicht kommen.


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