Work-Life-Balance: Leben um zu arbeiten?

Expertin und Berufsberaterin Anke Dinsing mit einem Debattenbeitrag zum Thema Work-Life-Balance.

Anke Dinsing, Berufsberaterin
Anke Dinsing, Berufsberaterin Privat

Früher wurde mal behauptet, der Franzose arbeite, um zu leben, und der Deutsche lebe, um zu arbeiten. Ob diese Unterscheidung auch zu Zeiten des aktuellen Jubiläums 50 Jahre deutsch-französische Freundschaft noch zu halten ist, bezweifle ich. Denn sowohl Globalisierung als auch das Internet haben Arbeit und Arbeitsleistung Stück für Stück neu definiert.

Burn-out, Ängste, Depression

Bereits vor rund 200 Jahren hat die Industrialisierung zu einer radikalen Veränderung im Arbeitsalltag geführt. Beendete früher Bauer und Pferd die Feldarbeit, wenn sie müde waren, hält heute die Maschine in ihrer Unermüdlichkeit den Menschen zu allen Tages-und Nachtzeiten in Trab. Eine üble Folge davon sind mehr und mehr Ausfälle in der Mitarbeiterschaft durch Burn-out und psychische Erkrankungen wie Ängste und Depressionen, die daraus entstehen können. Aktuelle Reaktion: Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen fordert Unternehmen auf, betriebliche Regeln einzuführen, dass Mitarbeiter sich aus der rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit ausklinken müssen. Einmischung von dieser Ebene ist neu. Das soll was heißen!

Aber zu welchen Konsequenzen führen die mittlerweile auch in der breiten Öffentlichkeit angekommenen Erkenntnisse (»zu viel Arbeit macht krank, zu wenig Arbeit macht krank, Perfektionismus macht krank, zu wenig Gestaltungsspielraum macht krank, zu wenig Bewegung macht krank, zu viel Stress macht krank....«)?

Brauchen wir mehr Work-Life-Balance? Ich will einen grundsätzlichen Irrtum aufklären: Work und Life sind nicht verschieden. Von daher können sie auch nicht auf zwei gegensätzlichen Enden einer Wippe hocken, und man kann sie nicht in Balance bringen. Arbeit ist Leben. Zeitung lesen kann Arbeit sein und die Neugier und das Interesse am Weltgeschehen befriedigen. Renovieren kann anstrengende Arbeit sein und den Wunsch nach einem wohligen Zuhause erfüllen.

Eine neue Software entwickeln kann hohe Konzentration fordern und das persönliche Streben nach Erfolg bedienen. Ein Gefühl von Balance stellt sich dann ein, wenn körperliche, geistige und seelische Bedürfnisse ausgewogen befriedigt werden. Das mag bei dem einen etwas anders aussehen als bei dem anderen. Eine Landwirtin wird sich in einem Konferenzsaal bei einer mehrstündigen Tagung nicht wohlfühlen, ein begeisterter Moderator und Kommunikator wird dagegen ganz auf seine Kosten kommen, wenn ihn das Thema interessiert. Mit wem sollte er im Kuhstall diskutieren? Neben physiologischen Grund- und Sicherheitsbedürfnissen strebt der Mensch nach Zugehörigkeit, nach Anerkennung und Wertschätzung, Selbstverwirklichung und Selbstausdruck und schließlich nach Sinn. Das findet statt im sozialen Umfeld, in der Familie, im Berufsleben und im Frei-Raum des Alleinseins und der kreativen Langeweile (ja, auch dort!).

Was will ich? Was brauche ich?

Wenn diese Bedürfnisse allerdings dauerhaft nicht oder nicht in ausreichendem Maße befriedigt werden, dann gerät der Mensch zunehmend aus der Balance. Gefühle von Fremdbestimmtheit, Frustration, Ohnmacht, Überforderung, Angst, Müdigkeit, Sinnlosigkeit treten auf. Schon bei ersten Anzeichen davon ist es wichtig, aus der Trance des bisherigen Tuns aufzuwachen. Hier gilt es Fragen zu stellen: Was will ich wirklich? Was brauche ich, um mich gut und sicher zu fühlen? Wie will ich leben? Mit wem will ich zu tun haben? Welchen Raum soll mein Job, mein Privatleben, mein Hobby, sollen Partnerschaft und Familie einnehmen? Sicherlich ist es gerade für Berufseinsteiger und Menschen, die einen neuen Arbeitsplatz antreten, ein besonderes Anliegen, ihre Leistungsbereitschaft zu beweisen. Sie selbst und der Arbeitgeber haben hohe Erwartungen. Das ist normal. Wer aber meint, dass es eigentlich nie genug ist, was er leistet, setzt sich selbstständig unter Druck: noch mehr, schneller, besser! Aber auch der beste Sportler braucht eine sinnvolle Nutzung der eigenen Ressourcen: Als neuer Mitarbeiter bist du ein Marathonläufer und kein Sprinter

Wer mit dem Tempo eines  Sprints nach 42,195 Kilometer am Ziel ankommen will, verkennt natürliche biologische Gesetze. Das gilt auch für das Berufsleben. Gute Arbeitgeber nehmen wahr und respektieren, wenn ihre Mitarbeiter gut arbeiten. Sie wollen natürlich beste Leistungen, sie wollen diese aber auch langfristig. Gaukel deinem zukünftigen Chef also nicht eine Performance vor, die du nur kurzfristig erbringen kannst. Entweder durchschaut er dich direkt zu Beginn oder er wundert sich nach einiger Zeit, wen er da eingestellt hat. Beides führt nicht zu einem dauerhaften Beschäftigungsverhältnis. Falls du zugleich ein sehr disziplinierter und leistungsbereiter Mensch bist, dann tritt die Phase der Ernüchterung vielleicht nur etwas später ein, oft erst durch deinen Kräfteverlust. Es ist gut, wenn Unternehmen hier auf Nachhaltigkeit Wert legen. Das kann geschehen durch Informationen und Angebote zur Gesunderhaltung (Bewegungs- und Entspannungsangebote), mit flexiblen Arbeitszeitmodellen, familienfreundlichen Strukturen und einer Unternehmenskultur, die Mitarbeiter nicht nur als Human Resource definiert, sondern ihnen mit Respekt und Wertschätzung in Wort und Tat begegnet. Auch das dürfen und sollen Berufseinsteiger von ihrem zukünftigen Arbeitgeber erwarten können.

Kluge Unternehmen bieten Work-Life-Balance

Kluge Unternehmen wissen mit solchen Angeboten ihren Vorteil bei der Suche nach gefragten Fachkräften ins Spiel zu bringen. Aber letztlich führst du als Berufseinsteiger selbst Regie in deinem Leben. Du definierst deine Benchmarks. Denk daran, dass du im Wortsinn Arbeit-Geber bist. Du stellst für einen anderen (für ein Unternehmen, eine Institution oder – in der Selbstständigkeit – für deine Kunden) deine Energie, Kreativität und Lebenszeit zur Verfügung. Dafür trägst du die Verantwortung. Vollziehe einen Perspektivenwechsel: Du musst nicht Opfer von Strukturen werden. Du kannst dein Leben gestalten, indem du dich ganz ehrlich fragst, was deine wirklichen, langfristigen Ziele und Werte sind. Und die nimmst du dann ruhig in Angriff.

 

Mehr Informationen unter www.anke-dinsing.de


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