Herr Niestroj, wie fanden Sie als Physiker Ihren Weg in die Automobilindustrie?
ach dem Studium entschied ich mich gegen die Promotion und für den direkten Einstieg in die Industrie über ein Traineeprogramm bei Mercedes. Das Studium der Physik habe ich nie bereut, Analysefähigkeit und Systemdenken konnte ich hier zu genüge erlernen. Als Physiker kenne ich zwar vielleicht nicht alle Arten von Metallen und Materialien und bin sicher nicht derjenige, der Komponenten schlussendlich konstruiert, aber ich kann technisch mitreden und alle Konzepte verstehen.
Viele Physiker arbeiten in der universitären Forschung. Was fasziniert Sie an der Industrieentwicklung?
Die große Bandbreite! Wer in Physik promoviert – die Voraussetzung für eine rein wissenschaftliche Forschungskarriere –, spezialisiert sich stark auf ein bestimmtes Themenspektrum und ist dann eben Experte für beispielsweise Antiprotoninduzierte Kernspaltung. Ich wollte mich breiter aufstellen und außerdem wollte ich schon immer gern international arbeiten. Das habe ich während meiner Diplomarbeit gemerkt, für die ich einige Zeit am CERN und in Japan verbrachte. Außerdem ist der Pkw zudem ein so wichtiges Produkt für die Entwicklung der Gesellschaft und individuelle Mobilität ein Thema, dass uns alle betrifft. Es macht einfach Spaß, an dieser Zukunft zu arbeiten und dann auch noch für eine der größten Automarken weltweit.
Sind Sie ein klassischer Autonarr? Es gibt Leute, die haben Benzin im Blut. Ich habe eher Strom im Blut. Meine Leidenschaft sind elektrische Antriebe, Hybrid-Motoren, Brennstoffzellen, nicht so sehr die Acht-, Zehn- oder Zwölf-Zylinder-Motoren. Mich begeistert es, ein Produkt zu schaffen, dass ich persönlich am eigenen Körper erleben kann. Das Auto ist ein hochemotionales Produkt, es ermöglicht Mobilität, Freiheit und Spaß und es ist immer wieder toll, zu erleben, wie Kunden sich dafür begeistern.
Gerade im Luxussegement ein großes Thema …
Sicher. Technologie emotional erlebbar zu machen ist ein ganz wichtiges Element. Dafür stemmen wir auch oft ganz besondere Projekte – zum Beispiel eine Weltumrundung mit einem Brennstoffzellenfahrzeug. Aus dem Nichts einen Konvoi von 40 Personen um die Welt fahren zu lassen, mit einer Antriebstechnologie, die es quasi noch gar nicht gab, das begeistert und inspiriert Mitarbeiter und hat mich persönlich motiviert.
Auch Sie sind quasi um die Welt nach Kalifornien gekommen. Wie haben Sie die Anfangszeit im Silicon Valley erlebt?
Ich arbeitete zuvor schon einmal in den USA, in Detroit, im klassischen Automotive-Hub. Daher kannte ich die USA und das, was dort anders war, schon bevor ich ins Silicon Valley kam.
Wo liegen denn die größten Unterschiede zu Deutschland?
Die Menschen in den USA gehen anders mit ihrer Arbeit um. Das Ausbildungsniveau ist teilweise niedriger als in Deutschland, unter anderem, weil ein Studium hier viel teurer ist. Auch Kinder sind eine viel größere Herausforderung für berufstätige Paare – in Deutschland können diese sich eher leisten, dass nur ein Elternteil Geld verdient. Trotzdem haben US-Amerikaner im Schnitt mehr Kinder als deutsche Familien. Abgesehen von den äußeren Rahmenbedingungen ist auch die Mentalität eine andere. Es herrscht ein viel fließenderer Übergang von Privat- und Berufsleben vor und sowohl der Einzelne als auch Entscheider der Führungsebene setzen viel weniger auf Langfristigkeit, wenn sie eine Entscheidung treffen. Die deutsche Weitsicht und Wertegesellschaft schafft zwar mehr Sicherheit, aber auch weniger Chancen, die ganz großen Erfolge zu feiern.
Finden Sie, dass sich deutsche Unternehmen stärker an der amerikanischen Risikobereitschaft orientieren sollten?
Ja, es ist ein Muss. Denn der Wettbewerb ist global, und Unternehmen müssen viel mehr Risiko eingehen, sonst können sie nicht mithalten. Software und Elektronik stellen viele Geschäftsmodelle in Frage und können sich zudem so schnell verbreiten wie es früher mit Hardware-Produkten nicht möglich war – nehmen Sie nur Uber als Beispiel. Sich protektionistisch zu verhalten und sich dem globalen Trend entgegenzustellen, halte ich für den falschen Weg. Besser wäre es, in den Wettbewerb mit einzusteigen – noch besser natürlich als Vorreiter gewisse Risiken einzugehen und Chancen wahrzunehmen.
Viele Trends haben ihren Ursprung an Ihrem aktuellen Arbeitsort. Ist der Hype ums Silicon Valley nicht etwas übertrieben?
Keineswegs. Wir haben festgestellt, dass das Silicon Valley ein Ökosystem ist, das nicht nur Softwarefirmen bündelt, sondern viele andere Aspekte mit dazu liefert. Die Universität, das Venture Capital, die hochattraktive Lebensumgebung – damit werden weltweit die besten Talente angelockt. Die Risikobereitschaft und Netzwerkmentalität, all das zusammen schafft einfach sehr fruchtbaren Boden für Innovationen. Hier wird sich die Welt verändern.
Trotzdem heißt es, dass es nur zehn Prozent der Silicon Valley-Start-ups schaffen …
Aber diese zehn Prozent sind so erfolgreich, dass sie die Verluste der übrigen überkompensieren. Für uns ist es einfach sehr wichtig, hier zu sein, auch, um nah an den entscheidenden Firmen zu sein. Wenn beispielsweise Apple ein neues Produkt wie die Apple-Watch herausbringt, und wir diese in unser Fahrzeug integrieren wollen, dann kriegen wir den Zugang zum Gerät nur, wenn wir vor Ort sind. Denn das Gerät verlässt das Gelände der Firma nicht, bevor es auf dem Markt ist. Jedes wichtige Unternehmen der Technologiebranche ist hier und ich kann die Ansprechpartner in weniger als einer Dreiviertelstunde besuchen.
Viele dieser Firmen suchen beständig neue Talente – ein War of Talents?
Gewissermaßen. Hier finden sie auf den Autobahnen große Plakate, auf denen Firmen um neue Mitarbeiter werben. Passt das Profil, etwa als junger Experte für Robotik, Software oder autonomes Fahren, werden sie weltweit von Firmen umworben, ins Silicon Valley zu kommen. Denn um all die neuen Technologien umzusetzen, braucht es Know-how auf Softwareebene, in der Chiptechnologie und in der Künstlichen Intelligenz. Wer die richtigen Ideen am besten umsetzt, gewinnt – deshalb buhlen die Firmen geradezu um die besten Mitarbeiter.
Neben der Rekrutierung der besten Talente – welche Themen beschäftigt das Mercedes-Benz Research and Development North America derzeit konkret?
Ein Beispiel wäre die User Interaction. Wir untersuchen, auf welche Weise der Fahrer die elektronischen Systeme wie Navigation oder Infotainment bedient. Dabei stellen wir uns etwa die Frage, welche Bedienelemente in Zukunft verwendet oder ergänzt werden. Müssen wir den Blick des Fahrers beobachten, um zu wissen, wo er hinsieht? Stellen wir Instrumente künftig nur noch virutell bereit, so dass sie durch Gesten bedient werden? Im Vordergrund steht dabei die User Experience: Wie erlebt der Kunde das Produkt im Ganzen? Wie kann das Auto das Verhalten des Fahrers vorhersehen und ihn unterstützen, etwa durch Machine Learning und Algorithmen? Für diese Systeme braucht es Kompetenzen in Künstlicher Intelligenz und das Wissen, wer solche Systeme bereitstellen kann. Gerade bei der Entwicklung des selbstfahrenden Autos kommen all diese Themen zusammen. Wie steuert man ein autonomes System, wie geht man mit der großen Datenmenge um, die durch Kameras, Karten und Sensoren erzeugt und in Millisekunden verarbeitet werden muss?
Welche Rolle spielen Innovationen für Ihre Abteilung? Sie sind Teil unserer Arbeit. Mitarbeiter können auch mal einige Monate an einer neuen Idee tüfteln. Dafür nutzen wir dann auch die Silicon Valley-Infrastruktur und bringen sie mit Start-ups in Verbindung, die auf dem Gebiet schon Erfahrung gesammelt haben. So entsteht zügig ein Prototyp – dann können wir überlegen, ob wir es umsetzen oder nicht.
Wie hat die Digitalisierung die Arbeit in F&E verändert? Viele Aspekte der konventionellen Produkte, die die Firmen entwickeln, sind jetzt softwaredefiniert. Für die Interation einer Apple-Watch oder eines Google Home Device braucht es schlicht wenig Hardware-Änderungen. Dadurch sind die Entwicklungszyklen natürlich viel kürzer, als wir das klassisch aus der Automobilindustrie kennen.
Was raten Sie Studierenden und Absolventen, die in der Automobilwelt Fuß fassen wollen?
Setzt euch mit Software-Themen auseinander. Ein Auto fährt sicher nicht allein deshalb, weil Software integriert ist. Aber die großen Entwicklungen der nächsten Jahre sehe ich in den softwaregestützten Gebieten. Denn einerseits gibt es da noch viel zu gestalten, das es aktuell noch gar nicht gibt, andererseits sind die zukünftigen Kunden, die heute aufwachsen, komplett an das digitale Ökosystem gewöhnt. Das heißt, der Kunde wird bald wesentlich weniger Wert darauf legen, wie die Fahrdynamik ausfällt oder sich der Sound eines Sechs- und Vier-Zylindermotors unterscheidet. Er wird sich vielmehr damit beschäftigen, ob und wie schnell WiFi im Auto vorhanden ist, welche Services mit dem Auto verknüpft sind und ihm etwa beim Tanken oder Parken assistieren. Klassisches Ingenieurhandwerkszeug, Kenntnisse in Softwarethemen wie Cloud Computing, Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen sowie Teamfähigkeit und eine internationale Sichtweise sind deshalb die Dinge, auf die es ankommt.