Diabetiker sind eine dankbare Patientengruppe für mobile Apps wie MySugr. Die vielleicht erfolgreichste Medizin-App visualisiert und analysiert die Blutzuckerwerte der Patienten, gibt Hinweise, was sie essen können und wie viel Insulin sie sich spritzen müssen. Im Sommer 2017 übernahm Roche Diagnostics das Start-up, das nun keine Geldsorgen mehr hat und stark wachsen will. Philipp Hofmann ist als Software-Entwickler im Android-Team von MySugr tätig. Regelmäßig liest er die Reviews der Nutzer im App-Store, die bestätigen, dass die Diabetes-Typ-1-Krankheit mit der App in den Hintergrund tritt und sie das Leben mehr genießen können. »Ich wollte an einer sinnvollen App mitwirken, die der Unternehmenskern ist. Als Entwickler sind wir in Design Sprints auch in Kontakt mit Patienten oder auch Krankenkassen, deren Probleme wir verstehen wollen. Wir bauen dazu Prototypen, die die Nutzer validieren«, erzählt der 27-Jährige mit einem Masterabschluss in Software-Entwicklung. Wie an der Fachhochschule Technikum in Wien gelernt, entwickelt Hofmann die neuen Funktionalitäten oder Optimierungen für die App mit agilen Methoden im Android-Team. Er ist auch schon als Scrum-Master eingesprungen und war zuständig für das Projektmanagement sowie für die Planung und Abstimmung mit dem Produkt-Verantwortlichen, den Designern, dem Second-Level-Support, den Übersetzern und Qualitätsmanagern. Kommunikationsfähigkeit ist das Wichtigste. Die Regularien und Zertifizierungen für eine Medizin-App sind hoch und langwierig. Daran müssen sich Medizin-App-Hersteller anpassen. »Medizinische und personenbezogene Gesundheitsdaten sind sehr sensibel. Ein Bug, zum Beispiel eine falsche Angabe bei der Insulinmenge, die MySugr anzeigt, hätte große Auswirkungen auf die Gesundheit des Patienten«, ist sich Hofmann seiner Verantwortung bewusst.
App für den weltweiten Einsatz
Aufgrund der komplexen Inhalte, sowohl in der Informatik als auch in der Medizin, gibt es für Rick Shaikh nur ein Rezept: »Entwickler sollten alles hinterfragen und im Detail verstehen«, sagt der Fachinformatiker und Inhaber des IT-Unternehmens GE-MU Systems. Im Auftrag des Forschungszentrums Borstel und in Kooperation mit dem Oberarzt Dr. Christian Herzmann baute er in kurzer Projektzeit eine komplett neue Version der bestehenden App ›Explain-TB‹, die smartphone-basiert Tuberkulose-Aufklärung weltweit betreibt. 400 ehrenamtliche Übersetzer unterstützen das Projekt. Er wühlte sich durch ein medizinisches Pamphlet über Krankheit und Ansteckung, lernte Medizinprozesse und Messungen auf Papier und analogen Geräten kennen. Der Hamburger wunderte sich, dass solche Medizinprozesse selbst in Deutschland nicht digitalisiert sind, obwohl es technisch möglich ist. ›Explain-TB‹ unterstützt Ärzte weltweit bei Sprachbarrieren, wenn sie Menschen in Indien, China, der Mongolei oder afrikanischen Ländern erklären, wie sie sich vor Tuberkulose schützen können. Herzmann und Shaikh legten gemeinsam die Lösung fest: Eine Low-Budget-App für iOS und Android, die erklärende Audiodateien in 37 Sprachen anbietet. »Für den Einsatz in aller Welt ist es wichtig, dass die App die Erklärdaten über Tuberkulose in einer lokalen Datenbank speichert und der Nutzer nicht immer online sein muss. Synchronisiert werden die Daten dann, sobald das Smartphone wieder online ist.« Die Herausforderung: die korrekte Darstellung der 37 verschiedenen Sprach- und Schriftzeichen. »Wir konnten dem Nutzer nicht zumuten, alle Schriftarten der Welt aufs Smartphone zu laden, das wären drei Gigabyte. Wir haben eine dynamische Einstellung ausgewählt: Der User bestimmt, welche Primär- und Sekundärsprache geladen wird.« Seit März 2018 ist die App online und wurde auf dem Welt-Tuberkulosetag präsentiert.
Schnittstelle zwischen Medizin und Informatik
Dr. Stephan Jonas, Leiter der Abteilung mHealth der Medizinischen Informatik an der RWTH Aachen, kennt die Schwierigkeiten an der Schnittstelle zwischen Medizin und Informatik. Der Diplom-Informatiker mit Medizin-Promotion und sein 20-köpfiges Team aus Wissenschaftlern, Doktoranden und Studenten forschen nach neuen mobilen Medizin-Anwendungen von Wearables, tragbaren IT-Systemen. »Wir entwickeln Sensoren zur Gestensteuerung aus der Spieleindustrie weiter für die Unterstützungsdiagnostik bei Parkinson. Aktuell testen wir eine Software auf Tablets und Smartphones, die Hirndiagnostik und Indikatoren der Epilepsie statt mit einem medizinischen EEG-Gerät mit einem Gerät aus der Spieleindustrie aufzeichnet und überwacht. Der Patient könnte das Gerät mit nach Hause nehmen und es ist günstiger«, beschreibt Jonas die Vorteile. Bisher müssen Patienten für die Untersuchung sieben Tage auf einer Überwachungsstation vor einem Videomonitor verbringen. Wenn die App gut abschneidet, muss sie einen langen Zertifizierungsprozess als Medizinprodukt durchlaufen. »Den großen Durchbruch sehe ich dann erst in drei bis fünf Jahren. Medizin-Apps brauchen viel Zeit und Geld, bis sie am Markt sind – und am besten einen Medizinpartner, dem die Ärzte vertrauen«, schätzt Jonas. Ärzte hegen viel Widerstand gegen mobile Medizinprodukte aus Angst vor mehr Arbeit und vor der Automatisierung der Gesundheitsbranche. Interessierten ITlern empfiehlt Jonas deshalb, so früh wie möglich praktische Erfahrungen unter Ärzten zu sammeln: »Informatiker lernen am meisten, wenn sie einem Mediziner einen Tag lang hinterherlaufen und herausfinden, wie sie ihm Zeit für lästige Arbeiten ersparen können.«