
Herr Karger, wo steht Deutschland im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) im internationalen Vergleich?
Wissenschaftlich ist Deutschland in der absoluten Spitzengruppe zusammen mit anderen großen Nationen wie den USA, Frankreich, Japan und Russland. Deutsche Forscher haben Top-Positionen in den KI-Abteilungen der größten IT- und Internet-Unternehmen, für die der Fortschritt mit KI erfolgskritisch ist. Deutsche Firmen setzen KI bereits im Kontext Sprachtechnologie, Gesundheit, Fahrerassistenzsysteme, Energiewende, Unternehmenssoftware oder Produktionssteuerung im Sinne von Industrie 4.0 ein. Aber auch kleinere Firmen leisten ihren Beitrag. Ein Beispiel ist die Kölner Firma DeepL. Sie liefert etwa Maschinelle Übersetzung in Echtzeit, die erstaunlich gut ist – auch im Vergleich mit den größten Wettbewerbern aus den USA.
In welchen KI-Bereichen besteht noch Entwicklungsbedarf?
Bei der Software! Die aktuellen Chatbots und digitalen Assistenten sind zwar in den vergangenen Jahren deutlich besser geworden, bleiben aber noch weit hinter den Wünschen und konkreten Erwartungen der Nutzer zurück. Sie eignen sich für Gerätesteuerung oder sehr simple Verkaufsdialoge – und machen den Kaufprozess effizienter – erfüllen aber nicht die Rolle eines tatsächlichen Assistenten, von dem deutlich mehr Informationskompetenz erwartet wird. Bedarf besteht natürlich auch noch bei der Hardware. Zunehmend entwickeln Firmen Chips, die für Parallelverarbeitung spezialisiert und für KI-Verarbeitung gedacht sind, mit denen sich neue Geräte und neue Anwendungen entwickeln lassen. Augmented Reality beispielsweise funktioniert bei Gaming oder als Handwerkerunterstützung bei Überkopfarbeiten. Aber bis heute sind die Fragen noch nicht gelöst, mit welcher Hardware und mit welchen Anwendungen Augmented Reality-Lösungen in dem viel größeren Consumer Markt einzuführen sind.
Womit können wir in Zukunft in Sachen KI außerdem noch rechnen?
Die Chancen und Aussichten sind zahlreich: KI kann mit maschinellen Dolmetschern Verständigungsprobleme überwinden, durch selbstfahrende Autos die Zahl der Verkehrsopfer reduzieren, durch sehr gute Diagnostik bessere Therapien ermöglichen, die persönliche Fitness verbessern, durch optimale Produktions- und Verbrauchsprognosen die Energiewende befördern, durch den Einsatz von Robotern unser Wissen über den Mars mehren, die Ozeane von Plastik reinigen und Rohstoffe auf dem Meeresboden abbauen. Aber bis dahin steht die Wissenschaft vor zahllosen Problemen – deshalb ist es wichtig, dass möglichst viele Studenten KI zu ihrem Interessenfokus und Studienschwerpunkt machen.
Welchen Stellenwert hat der Datenschutz in der KI-Thematik?
Wichtig ist, dass KI-Anwendungen den Menschen bei seinen Zielen unterstützen und gleichzeitig seine Persönlichkeit und seine Privatsphäre schützen. Wir sind an einer Kreuzung und müssen wählen: Der einfache Weg führt über die intensive Ernte privatester Daten zum gläsernen Nutzer. Er liefert einen momentanen Vorteil, lässt den einzelnen Bürger aber hilflos zurück im Falle einer möglicherweise perversen politischen Entwicklung. Der komplizierte Weg findet Möglichkeiten, die Privatsphäre hermetisch zu kapseln und dennoch hilfreiche und sinnvolle Wissensdienstleisungen zu erbringen. Hierbei gibt es sehr viel zu tun!
Das klingt brisant. Was genau müsste getan werden?
Wir brauchen belastbare Zielvereinbarungen, einen intensiven öffentlichen Diskurs über den Mehrwert für Menschen und über die Anwendungen, die gesellschaftlich erstrebenswert sind. Dann können die wissenschaftlichen Fragen bearbeitet und die passenden Geschäftsmodelle entworfen sowie umgesetzt werden. Dieser Diskurs sollte nationale Grenzen überschreiten und alle Generationen einbeziehen. Stichworte sind ›menschzentrierte KI‹ oder ›AI for good‹. Wichtig ist auch, dass die ingenieur- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten sich noch intensiver austauschen und enger in gemeinsamen Projekten zusammenarbeiten. Wir brauchen nicht Technologie für Technologen, sondern Lösungen, die jeder im Alltag einsetzen kann und will.
Welche besonderen Trends gibt es derzeit im Bereich KI?
Der aktuell bekannteste Trend sind künstliche neuronale Netze, Stichwort ›Deep Learning‹, für die Verarbeitung sensorischer Information. Deep Learning hat die Spracherkennung und die Übersetzung sprunghaft verbessert und ein ganz neues Exzellenzniveau bei der Bildverarbeitung ermöglicht. Mittlerweile werden nicht nur Objekte oder Personen auf Fotos erkannt, sondern auch der Gemütszustand, die Stimmung und das Sentiment werden analysiert. Die Ergebnisse sind bei weitem noch nicht perfekt, aber vielversprechend. Eine kommende Megaanwendung sind die Arbeiten zum selbstfahrenden Auto. Das dauert noch einige Jahre, aber KI wird helfen, individuelle und sichere Mobilität auch bis ins hohe Alter zu ermöglichen.
Müssen sich Arbeitskäfte nun Sorgen machen, dass KI-Roboter sie ersetzen werden?
Maschinelle Wissensassistenten werden bei der Steuererklärung helfen, bei Nachbarschaftsstreitigkeiten, aber auch bei Investmententscheidungen. Das wird die Arbeitsplätze des Steuerberaters, des Anwalts und des Bankers verändern, aber nicht den Berufsstand überflüssig machen. In der Produktion wird Mensch-Roboter-Kollaboration die Fertigung und die Produkte verändern, aber die Fabrik wird nicht menschenleer sein. Natürlich werden in manchen Bereichen menschliche Arbeitskräfte komplett ersetzt. Und das ist außerordentlich erstrebenswert.
In welchen Bereichen sollten wir auf menschliche Arbeitskräfte verzichten?
Zum Beispiel beim Rückbau von Kernkraftwerken. Es wird daran gearbeitet, dass autonom agierende robotische Teams bei der Entsorgung der abgeschalteten Nuklearanlagen eingesetzt werden können. Das schützt Menschenleben vor Ort und reduziert die radioaktive Belastung in der Region. In dieser Vorstellung können Roboter helfen, die AKW-Ruine in Fukushima zu entsorgen. Es lassen sich noch viele weitere Beispiele finden, in denen schwere, gefährliche oder den Menschen ergonomisch belastende Tätigkeiten besser von Robotern übernommen werden sollten, wenn die entsprechende Leistungsfähigkeit erreicht werden kann.
In welchen Lebensbereichen kann KI in Zukunft außerdem eingesetzt werden?
KI kann Blinden das Sehen, Tauben das Hören, Stummen das Sprechen und motorisch Behinderten das Gehen, einen barrierefreien Zugang und Inklusion ermöglichen. Das geht sehr weit, aber daran wird gearbeitet. Naturkatastrophen können besser vorhergesagt werden, sodass bei Waldbränden, Überflutungen oder Stürmen durch eine längere Vorwarnzeit die Schäden reduziert und die Folgen für die Anwohner gelindert werden können. KI kann keine Naturkatastrophen verhindern, aber die Vorbereitung verbessern und damit einen aktiven Beitrag zum persönlichen Lebensglück und zum Investitionsschutz leisten. Interaktive Textilien und Wearables werden KI anziehbar machen, Smart Data werden Erkenntnisse aus massiven Datenmengen fördern. KI wird das Lernen verändern und das Einkaufen. Die Wohnung und die Stadt werden smart und alle Busse werden pünktlich sein – hoffentlich.