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Baumhaus Revival

Von wachsenden Backsteinen und Atmenden Rohstoffen – Die Baubranche boomt und baut auf Ingenieure

Der Sommer ist schön, der Himmel strahlt, meine Oma erlaubt mir, ein Eis aus der Gefriertruhe zu nehmen. Draußen brennt die Sonne, aber im Haus meiner Großeltern ist es im Sommer angenehm kühl. Wilder Wein klettert an der Fassade des Hauses empor und luchst der duftenden Kletterrose nebenan zunehmend Platz ab. Sommerferien bei Oma sind ein ganz eigenes Gefühl: eine gute Erinnerung an wohlig warme Winterabende vor dem Kamin und luftige Sonnenstunden im Hof des urigen Bauernhäuschens. Die wilde Fassadenbegrünung sorgt im Sommer für einen klimatischen Effekt, bietet im Herbst einen wahren Augenschmauß an Rottönen und verliert im Winter leider ihre Nützlichkeit. Zur Wärmedämmung in der kalten Jahreszeit bräuchte das alte Haus einen Bewuchs mit immergrünen Gewächsen wie beispielsweise Efeu oder einen modernen Dämmstoff an der Außenwand.

Blick in die Baustoff-Zukunft

20 Jahre später sind Naturbaustoffe voll im Kommen: Das Nachhaltigkeitsstreben, Umweltschutz und steigende Energiekosten erfordern Innovationen in der Baubranche. Bauingenieure, Materialwissenschaftler und andere helle Köpfe des Gewerbes sind dran, Baustoffe der Zukunft zu entwickeln, denn »mittlerweile stecken mehr als die Hälfte der CO2-Emissionen eines Gebäudes in den Materialien«, erklärt Dr. Jan Wurm, der europäischer Bereichsleiter für Forschung und Innovation der Arup Group ist. Die Verwendung nachwachsender Rohstoffe wie Holz sei zwar klimafreundlicher als Beton, aber aufgrund des langsamen Wachstums keine Universallösung, denn es soll ja möglichst viel CO2 in kurzer Zeit durch den Rohstoff gespeichert werden, fährt der Architekt fort. Der Fokus richte sich auf schnellwachsende Pflanzen – es gibt Ansätze Hanf- und Strohfasern zu Bauplatten zu verarbeiten – oder Abfälle. »Beim Projekt ›Foresta‹ werden auf einem Substrat aus Textil- und Agrarabfällen mit Hilfe von Pilzen Absorberplatten kultiviert«, beschreibt der Experte. Die porösen Pilzplatten besitzen einen hohen akustischen Dämmwert und finden Verwendung als Akustikpanele im Büro. Auch das Projekt ›Mind the Fungi‹ der TU Berlin verwendet Pilze: Ziel des Projekts sei die Entwicklung neuartiger umweltfreundlicher Materialien gewesen, die aus Pilzmycel bestehen, beschreibt Dr. Bertram Schmidt, Leiter des Bereichs Mycelmaterial, und erklärt, dass »mycelbasierte Komposite beispielsweise als Bestandteile von Wänden und Dächern wärme- und schallisolierend wirken können und dabei erdölbasierte Rohstoffe ersetzen. « Die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe e.V. (FNR) nennt zudem noch Seegrass, Rohrkolben (Typha) und Hanf als zukunftsträchtige Baumaterialien; Mitarbeiter René Görnhardt ist zuständig für den Bereich »Bauen und Wohnen« und erklärt: »Rohstoffe wie Typha, die in Paludikulturen auf wiedervernässten Moorböden wachsen und somit einen Beitrag zur Treibhausgasvermeidung leisten können, spielen eine zunehmend wichtige Rolle.« Für die Zukunft solle im Baugewerbe besonders auf eine Kombination von herkömmlichen Materialien, wie Hanf und Flachs, mit Kalk oder Lehm gesetzt werden oder auf alternative Plattenwerkstoffe aus einjährigen Pflanzen mit biologischen Bindemitteln als Alternative zu Gips, meint der FNR-Experte nach aktuellem Wissensstand.

Neue Richtungen schlagen Dr. Wolfram Schmidt und Torsten Becker ein: Ersterer ist Experte im Bereich der Baustofftechnologie der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) und beschäftigt sich mit grünen Betonen, denn »egal ob wir Beton mögen oder nicht – er bleibt unvermeidlich, und interessanterweise ist der CO2-Ausstoß und der Energiebedarf für dessen Herstellung geringer als für alle anderen Baustoffe«, erklärt Dr. Wolfram Schmidt. Sein momentanes Projekt dreht sich um ungenutzte landwirtschaftliche »Abfälle«: In Kollaboration mit Partnern in Afrika arbeitet er daran, aus der Schale der Maniok- Pflanze – die für Tiere unverdaulich ist – gleichzeitig Betonverflüssiger und Zementersatzstoffe zu gewinnen, um so das Klima zu schonen und Beton mit deutlich weniger Portlandzement herzustellen. »Würden wir versuchen, den weltweiten Bedarf an Beton mit Holz zu decken, wäre unser Planet bald eine Wüste«, führt der Experte für Biobeton aus, »eine Hebelwirkung können wir erzielen, wenn wir nachwachsende Rohstoffe in Massenbaustoffe für den Hoch- und Tiefbau einbringen können.« Auf vorhandene Materialen greift auch die carbonauten GmbH zurück: Mit Hilfe der Karbonisierung von Biomasse entstehen Biokohlenstoffe, die als Grundlage für die »carbonauten NET Materials« – eine Kombination aus Biokohlenstoff und Bindern – verwendet werden. »Was wir machen ist keine Rocket Science«, erklärt Geschäftsführer Torsten Becker, »wir setzen vorhandene Prozesse nur in einen neuen und industriellen Kontext.« Als Nebenprodukt des Karbonisierungsverfahrens entstehen wertvolle Pyrolyseöle, die laut Experten Becker in der Bauindustrie eingesetzt werden können – dem Innenputz beigemengt haben die Bestandteile beispielweise den genialen Effekt der Schimmelvermeidung. Zudem wird grundlastfähige erneuerbare Energie frei, die auch für die Herstellung von Baumaterialien genutzt werden kann.

Baumstark voran

Neue Materialien erforscht, Baustoffe innoviert und Prozesse angepasst: Check. Jetzt schlägt die Stunde der Ingenieure, denn diese werden »spätestens dann benötigt, wenn neue Materialien aus dem Labor hinaus in die Gesellschaft und in wirtschaftliche Prozesse eingebunden werden müssen. Dann geht es nicht mehr nur darum, Materialien zu optimieren, sondern darum systemische Lösungen auf Basis von Stoffströmen, Kosten und Anwendungstechnik zu finden. Das ist unglaublich spannend«, erklärt Materialforscher Dr. Wolfram Schmidt. Die Nachfrage nach Ingenieuren sei, laut Ingenieurmonitor, im dritten Quartal 2021 erstmals wieder höher als vor Pandemiebeginn, dennoch sind noch 132.000 offene Stellen zu verzeichnen. Engpässe in den Ingenieurberufen gibt es besonders in den Bereichen Bau, Vermessung, Gebäudetechnik und Architektur. Der Einstieg in die Baustoffbranche ist mit verschiedenen beruflichen Hintergünden und aus diversen Richtungen möglich: René Görnhardt etwa rät vor dem Studium zu einer Ausbildung in einem handwerklichen Beruf, z. B. zum Zimmerer oder Tischler. Dr. Jan Wurm sieht aber auch Anpassungsbedarf – das Verständnis müsse sich ändern: »Im Ingenieurwesen müssen Bewerber natürlich eine große technische Tiefe entwickeln – mit dem Beruf ist ja die Verantwortung verbunden, Gebäude robust und sicher zu bauen. Hinzu kommt jetzt aber, dass Ingenieure aus der Fachfrage – die sozusagen aus dem Gebäude an sie gestellt wird – übergeordnete Themen adressieren müssen, beispielsweise ›Was sind eigentlich noch andere, besser geeignete Bauweisen und Baumaterialien, um insgesamt zu einem CO2-neutralen Gebäude zu kommen?‹ Der Beruf entwickelt sich und dazu braucht es junge Menschen, die übergreifend und integrierend denken und dadurch neue Lösungswege aufzeigen können.«

 

 


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