
Herr Prof. Dr. Kilian, wie haben sich die Jura-Absolventenzahlen entwickelt?
Sie sind in den letzten zehn Jahren um bis zu 40 Prozent zurückgegangen. Die Zahl der Jurastudierenden insgesamt ist zwar nicht so stark rückläufig. Aber es gibt inzwischen mehr Studenten, die kein klassisches Jurastudium mit Staatsexamen absolvieren, sondern ein Bachelor- oder Masterstudium, meist im Wirtschaftsrecht. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich deren Zahl vervierfacht, auf rund 20.000 Personen. Da sich innerhalb der nächsten zehn Jahre der demographische Faktor niederschlagen wird und zudem die Abiturientenzahlen abnehmen, wird es zukünftig einen stärkeren Wettbewerb der Arbeitgeber um die Absolventen geben. Die starke Nachfrage wird sich natürlich auch auf das Gehalt auswirken. Die Top-Arbeitgeber erhöhen es bereits jetzt, um die besten Absolventen zu gewinnen und die anderen Kanzleien und Unternehmen werden nachziehen müssen.
Viele junge Juristen legen ihren Schwerpunkt auf das Wirtschaftsrecht. Wie wichtig sind Spezialisierungen wie diese für Einsteiger?
Der Trend am Markt geht stark zur Spezialisierung, da heute kein einzelner Anwalt mehr in der Lage ist, die ganze Breite an Rechtsgebieten abzudecken. Die generalistische Ausrichtung einzelner Kanzleien kommt nur dadurch zustande, dass sich mehrere spezialisierte Anwälte unterschiedlicher Ausrichtung zusammenschließen. Eine Spezialisierung ist auch wirtschaftlich sinnvoll, denn sie führt zu besseren Umsätzen. Schon für Berufsanfänger spielen Spezialisierungen inzwischen eine große Rolle. Im Bereich der Anwaltschaft ist es zum Beispiel bereits Standard, dass junge Anwälte relativ zeitnah eine Fachanwaltsqualifikation erwerben. Eine vom Soldan Institut durchgeführte Studie hat ergeben, dass drei Viertel aller Junganwälte planen, sehr früh nach ihrer Zulassung einen Fachanwaltstitel zu erwerben – oft wird das auch von den Kanzleien gewünscht, die Berufseinsteiger einstellen.
Das heißt, kurz nach dem Zweiten Staatsexamen wartet schon wieder die nächste Prüfung auf junge Juristen?
Genau. Der Erwerb des Fachanwaltstitels ist ein bisschen wie ein drittes Staatsexamen. Frischgebackene Volljuristen sollten also nicht glauben, dass sie nach dem Zweiten Staatsexamen nie mehr Klausuren schreiben müssen. Denn für eine formalisierte Spezialisierung erfolgen erneut Lernphasen und Prüfungen. Fast die Hälfte der verliehenen Fachanwaltstitel kommt übrigens aus drei Gebieten: Arbeitsrecht, Familienrecht und Steuerrecht.
Haben Anwälte ohne Fachanwaltstitel schlechtere Karten?
Das hängt davon ab, wo sie landen. Fachanwaltstitel spielen vor allem im Privatkundengeschäft eine wichtige Rolle, denn sie können Rechtssuchenden, die keine erfahrenen Nutzer des Rechtsdienstleistungsmarktes sind, Fachkompetenz signalisieren. Gerade Berufsanfänger, die nach einer Übergangsphase im Angestelltenverhältnis unternehmerisch tätig werden wollen, haben es mit dem Titel leichter. In größeren Kanzleien, die wirtschaftsberatend tätig sind, kommt es dagegen nicht so sehr auf die Qualifikation eines einzelnen Anwalts an, sondern mehr auf den Ruf der Wirtschaftskanzlei.
Apropos Qualifikation: Ist die Examensnote immer noch so wichtig?
In den Stellenanzeigen hat sich nicht viel geändert. Niemand sucht einen Juristen mit dem Ergebnis ›Ausreichend‹ – es werden natürlich immer gehobene Noten erwartet. Mit 40 Prozent weniger Absolventen und einer recht gleichbleibenden Notenverteilung gibt es jedoch folglich auch 40 Prozent weniger Absolventen mit Top-Noten. Der Pool an Berufseinsteigern mit einem überdurchschnittlichen Abschluss verkleinert sich also deutlich. Das führt dazu, dass nichts mehr so heiß gegessen werden kann wie es gekocht wird: Die formalen Anforderungen an Berufseinsteiger müssen letztendlich überall heruntergeschraubt werden.
Es lässt sich also leicht ausrechnen, wie viele Personen mit Prädikatsnoten es pro Jahrgang noch gibt.
Richtig. Und wenn sie dann womöglich noch promoviert sind, Auslandserfahrung mitbringen, über Sprachkompetenzen verfügen und einen Master absolviert haben, sind sie bei den Großkanzleien heiß begehrt. Aber natürlich können nur sehr wenige dieses Profil vorweisen – und eventuell wollen diese Wenigen gar nicht bei einer Großkanzlei anfangen. Die Anzahl derer, die das anstreben ist nämlich deutlich geringer als die Nachfrage. Auch Kanzleien aus dem mittleren Bereich und der Öffentliche Dienst, die früher noch ein Prädikatsexamen gefordert haben, können das angesichts der sinkenden Absolventenzahlen nicht mehr durchhalten und stellen nun auch Einsteiger mit weniger guten Noten ein.
Auch wenn die Anforderungen etwas sinken: Zählt im Öffentlichen Dienst nach wie vor nur die Note?
Nein, sie ist in vielen Fällen vielmehr zum Türöffner geworden, um in ein Assessment Center hineinzukommen. Früher hatte der Kandidat mit der besten Note nicht selten auch die besten Chancen auf eine Stelle. Diese Garantie entfällt heute häufig. Jetzt gilt es, das Bewerbungsverfahren erfolgreich zu durchlaufen.
Wie können Bewerber allgemein aus der Masse hervorstechen?
Die zentrale Zusatzqualifikation, um die eigene Attraktivität als Bewerber und das Einkommen zu erhöhen, ist die Promotion. Für manche Segmente ist ein Auslandsmaster interessant und auch Sprachkenntnisse kommen gut an. Inzwischen werden zudem Inlandsmaster beliebter. Zum Teil lassen sie sich auch mit einer Fachanwaltsausbildung kombinieren. Bei den Zusatzqualifikationen verhält es sich jedoch ähnlich wie bei der Examensnote: Arbeitgeber suchen die besten Absolventen, aber aufgrund der sinkenden Absolventenzahlen haben letztendlich auch Bewerber gute Chancen, die nicht alle geforderten Qualifikationen vorweisen können.
Die Absolventenzahlen nehmen also ab. Wie sieht es mit dem Frauenanteil aus?
Schon seit Längerem überwiegt der Frauenanteil in Studium und Referendariat mit 60 Prozent deutlich. In der Anwaltschaft – der größten juristischen Berufsgruppe – sieht die Verteilung nach dem Zweiten Staatsexamen allerdings anders aus: Unter den neu zugelassenen Anwälten besteht ein Verhältnis von 50 zu 50. Das liegt daran, dass Frauen häufiger in nichtjuristische oder nichtanwaltliche juristische Berufe gehen, etwa in den Öffentlichen Dienst oder in Unternehmen. Die Tatsache, dass diese Arbeitgeber für Frauen attraktiver sind, macht den Kanzleien zunehmend Probleme – denn immer mehr ältere Männer scheiden aus dem Beruf aus. Und die Frauen, die nachkommen, haben bei der Berufswahl andere Kriterien, etwa die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Wie reagieren die Arbeitgeber darauf?
Sie versprechen häufiger familienfreundliche Bedingungen – und Arbeitsmodelle, die mit dem traditionellen Konzept bisher nicht vereinbar waren: In Deutschland konnten Anwälte zwar häufig in einem Angestelltenverhältnis anfangen. Doch es handelte sich dabei nicht um ein Beschäftigungskonzept auf Lebenszeit. Nach ein paar Jahren wurden sie Unternehmer und machten ihre eigene Kanzlei auf. Oder sie stiegen zum Partner auf. Beide Optionen waren bisher für Frauen mit Kindern schwer realisierbar. Nun soll es vermehrt andere Modelle und mehr Angestelltenverhältnisse geben – das ist natürlich auch für männliche Berufseinsteiger der vielzitierten Generation Y oder Z relevant, die zum Teil andere Präferenzen haben als die etwas anders gepolten Absolventen der Generation X.
Kommen wir zum Thema Digitalisierung. Was wird sich hierdurch verändern?
Die Digitalisierung befindet sich im juristischen Arbeitsumfeld noch in den Anfängen. Daher lässt sich das jetzt noch nicht abschließend bewerten. Es wird Änderungen geben, aber vielleicht nicht in dem Maße und auch nicht so schnell wie es manche prognostizieren. Ziemlich sicher ist aber, dass viele Standardarbeiten nicht mehr von Anwälten erledigt werden müssen – insbesondere solche Arbeiten, um die sich bisher vor allem junge Anwälte oder Kanzleipersonal gekümmert haben. Hierzu zählt die Verarbeitung großer Datenmengen, die sich natürlich gut technisch abwickeln lässt. Für junge Juristen liegt in dieser Entwicklung ein großer Vorteil, denn sie können direkt stärker im juristischen Kerngeschäft tätig werden.
Inwiefern macht die Digitalisierung Anwälte überflüssig?
Da gibt es ganz unterschiedliche Meinungen, etwa beim Thema Blockchain. Ich selbst glaube nicht, dass die Digitalisierung die juristische Tätigkeit in so großem Maße beeinflussen kann wie manche denken, die bereits das Ende der Anwaltschaft vorhersagen. Allerdings hilft die Digitalisierung bereits dabei, ein Geschäft für Anwälte zu generieren. Über internetgestützte Angebote kommen Legal Tech-Start-ups an Leute heran, die ihre Rechtsprobleme in Angriff nehmen wollen – es ist sozusagen ihr Akquisitionsins- trument. Die Betroffenen hinterlegen ihr rechtliches Problem auf einem entsprechenden Onlineportal – und die Anwälte des dahinter stehenden Start-ups kümmern sich darum. Diese Entwicklung fällt zum Beispiel bei Fluggastrechten und bei Rechtsfragen zu Mietpreisbremsen auf. Legal Tech kann Rechtssuchenden also den Zugang zum Recht erleichtern und somit neue Mandanten für Anwälte akquirieren.
Auch die Globalisierung ist in vielen Geschäfts- und Gesellschafsbereichen allgegenwärtig. Welchen Einfluss hat sie auf den juristischen Arbeitsmarkt?
Für die breite Masse hat die Globalisierung keine relevante Bedeutung – wohl aber für große Wirtschaftskanzleien. Diese haben oft gar nichts mehr mit deutschem Recht zu tun. Bei den Anwälten für Wirtschaftsrecht in Großkanzleien handelt es sich jedoch um einen Bruchteil der deutschen Juristen. Unter den Anwälten machen sie in etwa einen Anteil von zehn Prozent aus, in der Gruppe aller Juristen sprechen wir nur noch von einem einstelligen Prozentsatz. Klar, Juristen müssen wohl öfter ausländisches Recht anwenden als noch vor dreißig oder vierzig Jahren. Ein Familienrechtler könnte zum Beispiel mit einer Scheidung nach ausländischem Recht zu tun haben. Dennoch hat die Globalisierung für die meisten Juristen nur marginale Auswirkungen auf ihre juristische Tätigkeit.
Glauben Sie, dass durch den Wandel in vielen Gesellschaftsbereichen zukünftig ganz neue Rechtsgebiete entstehen werden?
Das weiß ich nicht – ich will es aber auch nicht ausschließen. Doch natürlich gibt es in bestehenden Rechtsgebieten immer neue Herausforderungen. Das autonome Fahren kann beispielsweise zu neuen Fragestellungen im Verkehrs- und Strafrecht führen. Daneben könnte ich mir vorstellen, dass es einen neuen Trend in Bezug auf Spezialisierungen geben könnte. Bislang hing die jeweilige Spezialisierung immer sehr stark mit einem Rechtsgebiet zusammen. Wenn sich Juristen aber auf Zielgruppen spezialisieren, also ihren Schwerpunkt nachfragebasiert setzen, sind sie wirtschaftlich erfolgreicher. Juristen mit einer Zielgruppen-Spezialisierung beschäftigen sich dann mit unterschiedlichen Rechtsgebieten, aber immer nur aus dem spezifischen Blickwinkel der Zielgruppe.
Könnten Sie hierfür ein Beispiel nennen?
Ja, denn in ersten Ansätzen gibt es diesen Spezialisierungstyp mittlerweile schon – etwa im Medizin- oder Seniorenrecht. Da es weder ein Senioren- noch ein Medizingesetz gibt, handelt es sich um typische Querschnittsmaterien. Im Seniorenrecht würden sich Juristen etwa mit Renten-, Erb- Pflege- und Sozialrecht befassen und sich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen von Versicherungen für Senioren auseinandersetzen. Ein anderes Beispiel ist eine Spezialisierung auf die Rechtsgebiete von Transportunternehmen. Hier können Anwälte dann die Belange besagter Firmen im Öffentlichen Recht, Strafrecht, Zivilrecht und Arbeitsrecht punktgenau bedienen. Der Fantasie kreativer Juristen sind hier keine Grenzen gesetzt – notwendig ist aber eine genaue Auseinandersetzung mit dem Markt und potenziellen Kunden.
Das klingt spannend, aber auch komplex. Werden Einsteiger im Berufsalltag gut von erfahrenen Kollegen angeleitet?
Das lässt sich nicht so leicht verallgemeinern. Große Kanzleien haben natürlich häufig schon Schulungsprogramme, die allerdings meistens am Wochenende stattfinden. In kleineren Unternehmen gilt eher das Motto ›Learning by doing‹. Wer möchte, kann sich natürlich auch schon im Vorfeld durch den Besuch entsprechender Veranstaltungen auf den Job vorbereiten.
Welche Angebote gibt es denn?
Die Universitäten bieten häufig Kurse für Schlüsselqualifikationen an. Diese sind sicherlich zu empfehlen, um einen ersten Einstieg in berufsrelevante Themen zu bekommen. Daneben gibt es auch professionelle Angebote von Fortbildungsinstituten der Anwaltschaft, des Deutschen Anwaltvereins und der Bundesrechtsanwaltskammer, die überwiegend klassische Fort- und Weiterbildungen in den Rechtsgebieten, aber auch Kurse zu nichtjuristischen Kompetenzen, organisieren.
Haben Sie noch einen weiteren Tipp, wie sich Studierende am besten auf ihren Berufseinstieg vorbereiten können?
Wichtig ist, dass sich Studierende und Absolventen frühzeitig und umfassend über die Realitäten der angestrebten juristischen Tätigkeit und den aktuellen Bedarf informieren – das kann im Rahmen eines Praktikums passieren, aber auch über offizielle Statistiken und Publikationen. Angehende Juristen sollten sich zudem bewusst sein, dass ihnen in den Universitäten oft nur ein kleiner Ausschnitt der juristischen Realität präsentiert wird – und zwar dominiert durch große Wirtschaftskanzleien, die im Universitätsalltag präsent sind und mit einem hohen Gehalt werben. Die Möglichkeiten sind jedoch um einiges vielfältiger. Berufseinsteiger sollten daher offen für unterschiedliche Rechtsgebiete sein – auch für solche, denen sie in der Universität noch nicht begegnet sind, die aber in der Berufspraxis das Tagesgeschäft von Richtern und Rechtsanwälten bestimmen.