Angelika Nußberger
Angelika Nußberger privat

Interview: Richterin für Menschenrecht in Europa

Angelika Nußberger wacht seit 2011 als Richterin über die Menschenrechtssituation in Europa.

Frau Nußberger, wie steht es denn um die Menschenrechte in Europa?
Sehr unterschiedlich. Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gehen jährlich über 80.000 Beschwerden ein. Das beweist, dass viele Menschen in Europa ihre Rechte vor den nationalen Gerichten nicht ausreichend berücksichtigt sehen und es notwendig finden, sich an uns zu wenden. An der hohen Zahl der Verurteilungen insgesamt zeigt sich, dass in fast allen Mitgliedsstaaten des Europarats immer wieder Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vorkommen. Natürlich gibt es große regionale Unterschiede: Länder, aus denen sehr viele Klagen kommen, und dann wiederum solche, in denen es vergleichsweise selten Grund zur Klage gibt. Und natürlich unterscheidet sich vor allem auch die Art der Beschwerden von Land zu Land. Klagen über Folter, unmenschliche Behandlung und Polizeigewalt gibt es mancherorts häufiger als anderswo.

Aus welchen Regionen kommen denn besonders viele Beschwerden?
Die meisten erreichen uns aus Russland, sehr viele kommen aber auch aus der Türkei, der Ukraine, aus Rumänien und aus Moldawien – da gerade auch in Relation zur Bevölkerungszahl. Viele Klagen kommen auch aus Italien, wobei sich diese häufig auf die Dauer der Gerichtsverfahren beziehen.

Nun ist das Recht auf einen fairen Prozess in der Menschenrechtskonvention festgeschrieben, das Recht auf einen zügigen Prozess gehört da wohl auch dazu?
Ja, tut es. Ein Beispiel: Es hat keinen Sinn, einen Arbeitsrechtsprozess zu führen, wenn eine Kündigungsklage erst nach zehn Jahren vor Gericht zur Kenntnis genommen wird. Nach der Menschenrechtskonvention hat man nicht nur ein Recht auf Zugang zum Gericht, sondern auch darauf, dass eine Klage in einer vernünftigen Zeitspanne behandelt wird. Wenn dem nicht so ist, stellt der EGMR eine Konventionsverletzung fest und setzt in der Regel auch eine Entschädigung fest.

Haben Sie sich eigentlich auf bestimmte Themen verlegt oder werden Ihnen die Fälle zugeteilt wie sie kommen?
Wir 47 Richter haben keine inhaltliche Spezialisierung. Wir sind aber in fünf Sektionen eingeteilt, die jeweils Fälle aus jenen Ländern behandeln, aus denen die Richter der Sektion kommen. Jede Sektion ist repräsentativ zusammengesetzt, das heißt, sie behandelt jeweils Fälle aus Nord-, Ost-, Süd- und Westeuropa und dabei sowohl aus kleinen, wie auch aus großen Ländern. Es gibt also eine Art geografischer Schwerpunktsetzung – wobei sich die Zusammensetzung der Sektionen immer wieder ändert. Im Moment etwa bin ich neben den deutschen Fällen vor allem mit Fällen aus der Ukraine, aus Frankreich und Schweden befasst. Und dann gibt es die Fälle der Großen Kammer, die Länder betreffen, mit denen man sich sonst nicht unbedingt beschäftigt.

Weil Sie gerade die Arbeit in der Kammer und der Großen Kammer ansprechen: Einzelrichter dürfen zwar offensichtlich unzulässige Beschwerden abweisen, in allen anderen Fällen aber wird nie allein entschieden. Wer ist denn bei der Bearbeitung einer Beschwerde alles beteiligt?
Wir arbeiten in vier verschiedenen Zusammensetzungen. Zum einen gibt es die Große Kammer, die 17 Richter versammelt, dann die Kammer, in der sieben Richter entscheiden, die Ausschüsse mit jeweils drei Richtern und schließlich den Einzelrichter. Wo entschieden wird, hängt von der Bedeutung der Klage ab. Je wichtiger der Fall, umso größer ist auch die Formation, die über ihn entscheidet. Ein Einzelrichter kann nie eine Verletzung der Konvention feststellen, sondern nur die Unzulässigkeit einer Beschwerde. Allerdings werden zwischen 90 und 95 Prozent aller Beschwerden als unzulässig abgewiesen, entsprechend viele Fälle werden von Einzelrichtern bearbeitet. Ich selbst bin derzeit Einzelrichterin für Frankreich und Schweden.

Vor etwa dreieinhalb Jahren hat sich der ehemalige Präsident des EGMR, der Schweizer Jurist Luzius Wildhaber, darüber beklagt, dass zuviele Kläger mit Lappalien nach Strasbourg gingen und den Gerichtshof damit überlasten würden. Sehen Sie das auch so?
Nun, mit dem 14. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention ist eine Regel eingeführt worden, nach der sich der EGMR nicht mit einer Sache befassen muss, wenn dem Kläger kein erheblicher Nachteil entstanden ist. Ein Beispiel: Ein deutscher Kläger, dessen Krankenkasse die Kosten für seine Vitamintabletten nicht übernehmen wollte, wandte sich an den EGMR, weil das Gerichtsverfahren, in dem er dies beanstandete, zu lange gedauert hätte. Mit der neuen Regel haben wir die Möglichkeit, solche missbräuchlichen Beschwerden, in denen es um vielleicht fünf Euro geht, nicht anzunehmen, selbst wenn sie begründet wären, etwa weil das Gerichtsverfahren zehn Jahre gedauert hat.

Lastet nicht ein ungeheurer Druck auf Ihnen – nicht nur über die Zulässigkeit von Beschwerden entscheiden zu müssen, sondern auch hinterher Urteile zu fällen, die Auswirkungen auf den gesamten europäischen Kontinent haben können?
Ja, Druck muss man aushalten. Sowohl bei den Einzelrichterfällen, über die man abschließend entscheidet, als auch bei den Kammerfällen, die, wie Sie sagen, zum Teil weitreichende und auch politische Folgen haben.

Werden eigentlich alle Urteile des EGMR umgesetzt oder gibt es doch Widerstände in den jeweiligen Ländern?
In den 1990er Jahren hätte ich noch gesagt, dass die Mehrheit der Urteile bei nur ganz wenigen Ausnahmen umgesetzt wird. Mittlerweile gibt es durchaus Probleme. Ein prominentes Beispiel ist Großbritannien, das ein 2005 ergangenes Urteil immer noch nicht umgesetzt hat, in dem der Gerichtshof den pauschalen Ausschluss Strafgefangener vom Wahlrecht beanstandet hat. Aber auch sonst haben wir Fälle, in denen der Gerichtshof folgenlos Verbesserungen angemahnt hat. Fälle etwa, in denen Urteile auf durch Folter erpressten Geständnissen beruhten und so das Verfahren nach Verurteilung durch den EGMR wieder hätte aufgenommen werden müssen. Um die Umsetzung kümmert sich der Gerichtshof zwar nicht unmittelbar, da das Ministerkomitee des Europarats dafür zuständig ist, aber für die Autorität des EGMR ist es natürlich enorm wichtig, dass den Urteilen auch Folge geleistet wird. Immerhin bemüht sich die deutsche Bundesregierung doch sehr, unsere Urteile gewissenhaft umzusetzen. Denken Sie zum Beispiel an die Urteile zur Sicherungsverwahrung und an die Gesetzgebung, die seitdem in Gang gekommen ist. Oder an das Gesetz gegen überlange Gerichtsverfahren, das aufgrund eines Piloturteils des EGMR verabschiedet wurde.

Wobei ganz ohne Murren das Urteil zur Sicherungsverwahrung ja auch nicht umgesetzt wurde.
Murren ist erlaubt (lacht), was zählt, ist das Ergebnis. Es ist eine Sache, wenn es eine kontroverse politische Debatte über die Umsetzung der Urteile gibt. Eine ganz andere ist es aber, wenn ein Staat seiner internationalen Verantwortung nicht gerecht wird.

Sie haben das Beispiel Großbritannien genannt: Welche Mittel bleiben dem EGMR, wenn sich ein Land beharrlich weigert, ein Urteil umzusetzen?
Finanzielle zum Beispiel. Der EGMR kann in jedem Einzelfall eine Kompensation festsetzen, das summiert sich dann. Außerdem hat der Europarat verschiedene diplomatische Mittel, zum Beispiel die theoretische Möglichkeit, Abgeordnete des jeweiligen Landes bei Abstimmungen aus der Parlamentarischen Versammlung auszuschließen. Das ist natürlich die Ultima Ratio, da man auf gute Zusammenarbeit bedacht ist und Konflikte auf anderem Wege lösen will. Als kurz nach ihrem Beitritt zum Europarat in der Ukraine noch zahlreiche Todesurteile vollstreckt wurden, wurde der Ausschluss der Abgeordneten aber zumindest angedroht.

Sie sind seit 2011 am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Richterin tätig. Ist Ihnen denn aus Ihrer bisherigen Amtszeit ein Fall besonders im Gedächtnis geblieben?
Ja, natürlich, da gab es viele. Besonders schwierig fand ich etwa den gegen Deutschland gerichteten Fall wegen Inzest, bei dem zwar einstimmig keine Menschenrechtsverletzung befunden wurde, der aber von der Sache und der Fallgestaltung her sehr herausfordernd war.

Helfen Sie mir doch kurz auf die Sprünge, worum ging es in dem Fall genau?
Es ging um ein Geschwisterpaar aus Thüringen, das zusammen vier Kinder hatte. Nach dem deutschen Strafgesetzbuch ist Inzest unter Strafe gestellt, weshalb der Bruder mehrere Jahre im Gefängnis verbringen musste. Er hat sich dann beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) beschwert, dass das seine Privatsache sei und strafrechtlich nicht eingegriffen werden dürfe. Weder das BVerfG noch anschließend der EGMR allerdings haben in seiner Verurteilung eine Menschenrechtsverletzung gesehen. Für das Urteil des EGMR hat es eine große Rolle gespielt, dass die Mitgliedsstaaten des Europarats sehr unterschiedlich mit Inzest umgehen. Von Straffreiheit bis zu gravierenden Strafen ist alles vertreten. Der EGMR hat entschieden, dass es im Ermessen des nationalen Gesetzgebers liegt, ob Inzest strafrechtlich verfolgt wird oder nicht. Aber es gibt natürlich viele andere Fälle, die mich sehr beschäftigt haben. In einem davon ging es etwa um das Massaker von Katyń an polnischen Kriegsgefangenen durch die sowjetische Geheimpolizei im Jahr 1940, konkret um den Zugang zu Archiven und den Umgang mit Hinterbliebenen. Allgemein gesprochen gibt es einerseits Fälle, bei denen die menschliche Komponente und das, was dahintersteht, sehr traurig machen. Und dann gibt es Fälle, die vor allem aus juristischer Sicht herausfordernd sind. Fälle über unmenschliche Haftbedingungen etwa sind meist Wiederholungsfälle und juristisch nicht sehr schwierig, menschlich aber sehr anrührend. Aber inzwischen war ich doch an so vielen Entscheidungen beteiligt (lacht), da könnte ich Ihnen noch sehr lange über Dinge erzählen, die mich beschäftigt haben.

Ich fürchte nur, wir haben den Platz dafür nicht. Schließen wir doch vielleicht so: Ihre Amtszeit läuft bis 2020, anschließend werden Sie wohl wieder an die Uni Köln zurückkehren, oder?
Ja...

...und freuen Sie sich darauf, oder würden Sie an sich ganz gerne etwas länger Richterin bleiben?
(lacht) Also für eine Völkerrechtlerin ist es natürlich eine großartige Gelegenheit, an einem internationalen Gericht zu arbeiten. Deshalb genieße ich auch jeden Tag, den ich hier bin. Ich war immer sehr gerne an der Universität, stehe auch weiterhin in Kontakt und freue mich über jede Gelegenheit nach Köln zu kommen. Aber jetzt arbeite ich erstmal hier in Strasbourg.


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