Mann auf dem Feld der sich duckt und zwischen dem Gras hervorschaut

Medikamentenforschung: Geduld und Entdeckergeist

Die Suche nach einem geeigneten Wirkstoff gleicht der Suche nach der Nadel im Heuhaufen

Es gibt Momente, in denen ärgert man sich über das so unfassbar ungerechte Leben. Dann stellt man sich fragen wie ›Warum müssen Menschen unter chronischen Krankheiten leiden, warum müssen sie sterben an seltenen Erkrankungen?‹ Wir können Sonden in den Weltraum schießen und dort Substanzen untersuchen, aber der menschliche Körper stellt uns immer wieder vor Rätsel. Pharmaforscher arbeiten jedoch tagtäglich daran diese Rätsel zu entschlüsseln und den menschlichen Körper mit all seinen Funktionen und Dysfunktionen zu ergründen. Mit einem großen Ziel: Krankheiten zu heilen oder zumindest gut behandelbar zu machen.

Angela Villiger faszinierten Aufbau, Funktion und Steuerung des menschlichen Körpers schon immer, daher hat sie sich nach ihrer Tätigkeit bei einer Krankenkasse für den Bachelorstudiengang Life Sciences an der FHNW Basel entschieden, um noch mehr über die Medikamente, die sie abgerechnet hat, zu erfahren.

»Die ganze Prozesskette vom entdeckten Wirkstoff bis zur Medikamentenverabreichung und deren Wirkung, hat mich schon immer interessiert«, fügt die 28-Jährige hinzu.

Deshalb hat sie sich nach ihrem Bachelor mit der Vertiefungsrichtung Pharmazeutische Technologie für den aufbauenden Master in Life Sciences, Therapeutic Technologies entschieden, der optimal auf eine Tätigkeit in der Medikamentenforschung, etwa in der Formulierungsforschung, Prozessentwicklung, Produktion oder im Bereich Qualitätssicherung, vorbereitet. Durch die individuelle Fächerkombination konnte sich die Absolventin vertieftes Fachwissen in der Formulierungsforschung und -entwicklung aneignen. Außerdem wurden Kenntnisse in Analytik vermittelt, die sehr wichtig sind, schließlich will jeder Forscher seine Versuche erfolgreich untersuchen und analysieren.

Mit großer Freude an der Naturwissenschaft, Motivation, Ehrgeiz, Disziplin und gutem Zeitmanagement meisterte Villiger ihr Studium und arbeitet nun bei Hoffmann-La Roche als Principal Associate in der Formulierungsentwicklung. Hierbei sind sie und ihre Kollegen dafür verantwortlich Arzneimittel zu entwickeln, so dass der Wirkstoff zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und es stabil und sicher aufbewahrt werden kann.

»Diese Kombination aus Technik, Biologie und Chemie begeistern mich«, fügt die Forscherin hinzu.

Voraussetzung für die Entwicklung eines Medikamentes ist selbstverständlich die Identifizierung eines passenden Wirkstoffs – und dieser muss einiges leisten.

Die wichtigsten Eigenschaften, die ein Wirkstoff mitbringen muss, in Kürze:

  • Er muss den Zielort im Körper erreichen ohne vorher abgebaut oder ausgeschieden zu werden.
  • Die Substanz muss sich dort mit Molekülen des Körpers oder eines Erregers verbinden, die im Krankheitsprozess eine wichtige Rolle spielen, diese müssen dadurch entweder ab- oder angeschaltet werden, je nachdem, was einer Behandlung zuträglich ist.
  • Später müssen sie vom Körper aber wieder abgebaut oder ausgeschieden werden können, andernfalls würden sie sich anreichern.
  • Außerdem sollten sie auch bei mehrfacher Überdosierung nicht giftig sein und für Embryonen unbedenklich.
  • Gefährliche Nebenwirkungen sollten natürlich auch nicht auftreten und zu guter Letzt muss der Wirkstoff zuverlässig großtechnisch herstellbar sein.

Früher waren Wirkstoffe vor allem aus der Natur gewonnen, etwa Pflanzen oder Mineralien, seit dem 19. Jahrhundert werden vor allem synthetische Wirkstoffe verwendet. Inzwischen hat sich das Arsenal erweitert: Biopharmazeutika, Arzneistoffe, die mit Mitteln der Biotechnologie und gentechnisch veränderten Organismen hergestellt werden, nehmen einen immer wichtigeren Platz bei der Bekämpfung von Krankheiten ein. Und seit 1980 arbeitet die Pharmaforschung verstärkt an personalisierten Medikamenten, die durch Vorabtests speziell für den Patienten entwickelt werden.

Am Anfang steht die Grundlagenforschung 

Zu Beginn jeden Medikaments steht meist die Grundlagenforschung nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip – man definiert ein Behandlungsziel und sucht nach dem passenden Schlüssel. An einer Krankheit sind enorm viele verschiedene Moleküle im Körper beteiligt, aber nur an wenigen kann ein Wirkstoff angreifen, das heißt nur wenige eignen sich als Target. Erst wenn die Entstehung und der Verlauf einer Krankheit molekülgenau aufgeklärt ist, können Pharmaforscher untersuchen, wie man wirksam eingreifen kann.

»Etwa, indem man ein Enzym blockiert oder ein Hormon abfängt, dann können sich die Forscher daran machen, einen Wirkstoff zu erfinden, der genau das leistet«, fügt Dr. Siegfried Throm, Geschäftsführer Forschung/Entwicklung/Innovation im Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa), hinzu.

Dies ist wohl der schwierigste Teil der Medikamentenentwicklung und kann mehrere Jahre dauern. Denn es ist sehr aufwendig, für ein sogenanntes ›drugable target‹ ein dreidimensionales Molekül mit den idealen pharmakologischen Eigenschaften zu finden. Manchmal können Wirkstoffe von körpereigenen Stoffen abgeleitet werden, etwa von Hormonen oder Zwischenprodukten des Stoffwechsels. »In anderen Fällen wird im High-Throuput-Screening mit mehreren 100.000 Kandidatenmolekülen die Suche zunächst sehr breit angelegt und durch zahlreiche Filterprozesse die Auswahl eingegrenzt«, erklärt Matthias Meergans, Medical Director im Biotechnologie-Unternehmen Biogen, das vor allem Medikamente gegen schwere Erkrankungen – insbesondere neurologischer Erkrankungen, erforscht.

Sobald ein molekulares Ziel, das heißt, beispielsweise ein Rezeptor, ein Protein, ein Kanal, identifiziert ist, kann das molekulare Design über komplexe Simulationen beginnen. Hierbei werden Jahre damit verbracht diese Substanzen Atom für Atom zu verbessern, damit sie im Körper auch ans Zielorgan gelangen und nicht zu schnell abgebaut werden. Die Suche grenzt sich durch aufwendige Versuchsreihen nach und nach immer mehr ein. Das Endergebnis ist dann der Wirkstoffkandidat. Manchmal leistet aber auch der Zufall seinen Beitrag: Sildenafil fiel bei seiner ersten Erprobung als Herzmittel durch, doch dann wollten die männlichen Studienteilnehmer das Prüfmedikament nicht mehr hergeben – heute steckt der Wirkstoff unter anderem in Viagra. Auch in der Schlaganfallforschung gab es diesen seltenen glücklichen Zufall.

Medikamentenforschung: acht bis zehn Jahre Entwicklung

In der Regel sprechen wir aber eher von einer Mehrzahl jahrelanger Versuche den idealen Wirkstoff zu finden – genauer gesagt von etwa acht bis zehn Jahren. Bis das Medikament dann wirklich auf den Markt kommt, können insgesamt über 13 Jahre vergehen, rund 16 Monate entfallen allein auf die Prüfung des Antrags durch die Zulassungsbehörde. Bis es jedoch zur Vorlage bei der Zulassungsbehörde kommt, müssen viele kleine Schritte gegangen werden. Wenn der passende Wirkstoffkandidat gefunden wurde, muss dieser auf mögliche Schadwirkungen getestet werden, im Reagenzglas, mit Zellkulturen und auch mit Tieren. Tierversuche sind hierbei unverzichtbar, weil Zellkulturen weder Blutdruck noch Immunsystem haben. Erst wenn sich die Stoffe in diesen Tests bewährt haben, können sie zu einem Medikament verarbeitet und mit Menschen erprobt werden: Zuerst mit wenigen Gesunden in Phase I, dann mit wenigen Kranken in Phase II und zuletzt mit vielen Kranken in Phase III. Sind die Ergebnisse gut ausgefallen, beantragt das Unternehmen für das Medikament die EU-Zulassung. Bis zu diesem Schritt müssen Unternehmen nicht nur viele Jahre harte Forschungsarbeit leisten, sondern auch finanzielle Ausgaben. Laut vfa muss eine Firma mit Kosten in Höhe von einer bis 1,6 Milliarden US-Dollar für die Entwicklung und Zulassung eines neuen Medikamentes rechnen – viele Fehlschläge eingerechnet.

Biogen versucht im Durchschnitt ein bis zwei Medikamente pro Jahr durch alle behördlichen Genehmigungen zu bekommen. Im Jahr 2014 wurden insgesamt 49 Medikamente auf den Markt gebracht, die auf neuen Wirkstoffen basieren, so viele wie seit mindestens 25 Jahren nicht mehr. Dank dieser neuen Wirkstoffe ist beispielsweise chronische Hepatitis C nun fast immer heilbar und mehrere Krebsarten sind besser behandelbar. Seit den 2000er Jahren wendet sich die Pharmaforschung verstärkt komplexen chronischen Krankheiten zu, etwa Multipler Sklerose, Alzheimer und Herzinsuffizienz.

Immer mehr Medikamente werden gegen seltene Krankheiten entwickelt, außerdem wird auch an neuen Antibiotika gearbeitet, fügt Dr. Throm vom vfa hinzu. Aktuell werden in den deutschen Industrielabors unter anderem Medikamente gegen Krebs, Herz-Kreislauf- und Entzündungskrankheiten, Diabetes, Alzheimer sowie Frauen- und psychische Krankheiten erforscht.

»In Studien werden sogar Medikamente gegen beinahe 100 unterschiedliche Krankheiten erprobt – Deutschland ist bei klinischen Prüfungen die weltweite Nummer zwei nach den USA«, betont Dr. Throm.

Doch noch immer sind nur rund ein Drittel aller heute bekannten Krankheiten heilbar – oder zumindest gut behandelbar. Durch die Pharmaforschung und den generellen medizinischen Fortschritt erhöht sich jedoch die Lebenserwartung der Menschen – jedes Jahr gewinnen wir zwei bis drei Monate Lebenszeit hinzu. Neue Medikamente haben laut vfa daran einen Anteil von 40 Prozent.

Zugelassene Medikamente und Erfolge in der Behandlung sind gleichermaßen Bestätigung als auch Motivation für die Pharmaforscher: »Die Suche nach einer wirksamen und gut verträglichen Therapie, die den betroffenen Patienten hilft, ihr Leben wieder mit besserer Qualität und mit weniger Beschwerden zu führen, ist sehr motivierend und befriedigend«, fügt Meergans von Biogen hinzu. Ebenso inspirierend wirkt der kontinuierliche Austausch mit wissenschaftlichen Experten, etwa Chemikern, Biologen, Pharmazeuten und behandelnden Ärzten, die sich ebenfalls stark für ihre Patienten einsetzen.

Die Teamarbeit mit hochprofessionellen Partnern ist erfolgsentscheidend für das Gelingen eines Medikamentes. Für diese Teams sind die Unternehmen sowie die Wissenschaft auf der Suche nach qualifizierten Nachwuchskräften, die mit Entdeckergeist die Rätsel des menschlichen Organismus entschlüsseln wollen, um somit einen Beitrag zum Wohl der Menschen zu leisten.


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