Das ist ja riesig!
Ute Fröhlichs Probanden sprechen kein Wort mit ihr. Allenfalls gibt’s ein Glucksen oder Brabbeln und manchmal fangen sie an zu weinen. Detailliertes Feedback kann die Chemikerin aber auch gar nicht erwarten – denn ihre Testpersonen sind noch Babys. Fröhlich arbeitet bei Procter & Gamble (P&G) in der Windelforschung. In den ersten fünf Jahren im Unternehmen widmete sie sich der Verbesserung der Materialien von ›Pampers‹.
Heute bemüht sie sich als Produktentwicklerin jeden Tag, Konsumentenwünsche in technische Produktlösungen zu übersetzen. Damit die Windelentwickler nachvollziehen können, wie ihre kleinen Verbraucher sich fühlen, hat P&G spezielle Forscherräume eingerichtet – mit überdimensionierten Möbeln, um die Perspektive zu imitieren, und instabilem Fußboden, schließlich ist die potenzielle Kundschaft noch recht wacklig unterwegs. In den Produktprüflaboren simulieren säuglingsgroße Puppen außerdem typische Babybewegungen, sodass Stabilität und Funktionsweise der Windeln getestet werden können. Nichts aber geht den Entwicklern über den Live-Versuch. Dr. Ute Fröhlich erinnert sich gern an den Tag, als sie nach fast zwei Jahren Masehenterialforschung und vielen technischen Testreihen die ersten per Hand gefertigten Probewindeln an die »Testmuttis« übergeben konnte. »Meine Aufregung und Freude waren grenzenlos – auf einmal konnte sich das Ergebnis jahrelanger Arbeit der Praxistauglichkeit stellen«, berichtet sie. »Intensive und spannende Gespräche mit den Müttern waren danach an der Tagesordnung. Das ist auf einmal etwas ganz anderes als materialwissenschaftliche Theorie.« Jeden Tag holen sich etwa 300 Besucher neue Pampers zum Selbsttest ab.
Berufseinsteiger verdienen im Durchschnitt in der medizinischen Forschung 43.423 Euro, in der naturwissenschaftlichen Forschung 42.691 Euro und in der technischen Fertigung und Entwicklung 48.008 Euro.
Quelle: www.personalmarkt.de
An der Umsetzung der Forschungsergebnisse teilzuhaben, war Ute Fröhlichs Motivation, sich nach ihrer Promotion über ionische Flüssigkeiten nicht weiter der akademischen Forschung zu widmen. »Forschung und Entwicklung sind in der Industrie anwendungsorientierter«, sagt sie. »Ich kann hier immer wieder etwas Neues lernen. Obwohl ich studierte Chemikerin bin, habe ich mich auch mit Mechanik und Statik befassen müssen. Diese Vielseitigkeit macht mir sehr viel Spaß.« Dass es in der industriellen Forschung monotoner zugehen würde als an der Universität, hatte Dr. Marcel-André Breuning als Student noch befürchtet. »Ich dachte, in der Arbeitswelt wird es eintöniger«, meint der Chemiker, der sich sehr gerne an die Zeit seiner Doktorarbeit an der Uni Marburg erinnert, in der er in einem homogenen Team ganz »frei forschen« konnte. Seine negativen Erwartungen haben sich aber in keiner Hinsicht bestätigt. »Bei Merck bin ich sehr vielseitig gefordert in dem, was ich mal gelernt habe, und muss mich ständig selber in neue Problematiken hineindenken«, erzählt er. Noch vor Verteidigung seiner Dissertation stieg er bei Merck in Darmstadt als Laborleiter ein. Was er vor kurzer Zeit noch in der Uni gelernt hatte, kann er hier jeden Tag umsetzen: »Es ist ja nicht zwangsläufig so, dass man mit dem, was man studiert hat, im Job zu hundert Prozent etwas anfangen kann. Mein Wissen aus dem Studium brauche ich aber wirklich im täglichen Arbeiten.« Trotzdem unterscheidet sich das Forschen an der Uni gewichtig zu seiner jetzigen Arbeit in der Industrie. Bei Merck leitet der Chemiker ein Labor in der Verfahrensentwicklung. Drei Laboranten übernehmen hier die ›praktischen Handgriffe‹, die er an der Uni einst noch selbst durchführen musste. Während seine Mitarbeiter mit Reaktionskolben und Chemikalien hantieren, ist er für die Interpretation der Ergebnisse zuständig sowie für die Denkanregungen, in welche Richtung das Team weiterarbeitet. Ob er bei der häufigen Arbeit am Bildschirm manchmal vermisst, selbst die Kolben zu schwenken? »Natürlich mache ich nun deutlich weniger Reaktionen als noch während der Promotion«, meint Breuning. »Es ist aber sehr angenehm, wenn drei Leute mit einem zusammen die Reaktionen machen, weil dann am Ende des Tages signifikant mehr Ergebnisse herauskommen, als wenn ich nur alleine im Labor stehe.« Er genießt es, den Überblick über die Masse an Daten zu behalten und sich ganz auf die Optimierung des Herstellungsverfahrens konzentrieren zu können.
5 Krankentage hatten Naturwissenschaftler im Durchschnitt im Jahr 2009. Straßenreiniger fehlten an 35 Tagen.
Quelle: Statista
Breunings Abteilung bildet die Schnittstelle zwischen Forschung und Produktion beziehungsweise Vertrieb. Für aussichtsreiche Medikamente muss er einen skalierbaren Herstellungsprozess entwickeln. »In der Forschung nimmt man nicht ganz so viel Rücksicht auf eine möglichst effiziente Synthese«, lautet seine Erfahrung. »Wenn ein sinnvolles Ergebnis herausgekommen ist, wandert es zu uns in die Entwicklung, wo wir schauen, dass man das Ganze möglichst effizient, kostengünstig und in größeren Mengen herstellen kann.« Ein Prozess, der dauert. Bis eine neue Arznei kranken Menschen zur Verfügung steht, vergehen durchschnittlich zwölf Jahre. »Es gibt eine Prüfphase, präklinische Phasen, klinische Phasen, danach können wir die Studienergebnisse bei den Behörden einreichen, die schließlich ja oder nein sagen«, erklärt Dr. Gangolf Schrimpf, Sprecher im Bereich Innovationen bei der Merck-Group. »Arzneimittelforschung und -entwicklung ist langwierig, risikoreich und teuer«, bestätigt Prof. Dr. Jochen Maas, Geschäftsführer Forschung und Entwicklung bei der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH. 2010 hat das Unternehmen, das sich vor allem mit Diabetes, Stoffwechselstörungen und Alterserkrankungen auseinandersetzt, in Deutschland 614 Millionen Euro direkt oder indirekt für Forschung und Entwicklung ausgegeben. »Branchenweit erlangt von 10.000 untersuchten Substanzen durchschnittlich nur eine einzige die Zulassung in Form eines neuen Medikaments.« Deshalb wird innerhalb des Unternehmens, aber auch unter Hinzuziehung externer Berater, erst einmal genau analysiert, welche Forschungsansätze vielversprechend sind. Auch im Verlauf eines Forschungsprojekts wird dieses immer wieder auf den Prüfstand gestellt und über dessen Fortsetzung neu entschieden.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat im vergangenen Jahr beschlossen, die Forschung in mittelständischen Unternehmen der Medizintechnikbranche mit jährlich zehn Millionen Euro zu unterstützen.
Langwierig, aber lohnend. Schließlich steht am Ende im besten Falle eine Lebensverlängerung und Lebensqualitätssteigerung der Patienten, ist man bei Roche überzeugt. Der Schweizer Pharmakonzern investiert deshalb besonders in die Entwicklung von personalisierter Medizin. Dafür sucht Roche Absolventen jeglicher Naturwissenschaften wie Biologie, Biochemie, Biotechnologie oder Pharmazie. Eine abgeschlossene Dissertation ist für Berufsanfänger ein großes Plus.
»Im Bereich der Naturwissenschaften stellt eine Promotion nach wie vor ein wichtiges Kriterium für den Einstieg dar, vor allem für die Rolle des Laborleiters«, sagt auch Jochen Maas von Sanofi.
Sanofi verfolgt die Philosophie, dass erworbenes Promotionswissen idealerweise aus Universitäten und Instituten ins Unternehmen kommt. Deshalb kann man nicht innerhalb des Konzerns promovieren. Diese Variante des Doktortitelerwerbs hält Marcel-André Breuning auch gar nicht für sinnvoll: »In meinen Augen hat das den Nachteil, dass man im Bewerbungsgespräch dann gar nicht von seinem Doktorprojekt erzählen darf, denn meist ist das topsecret.
«Noch für eine Weile an eine ausländische Uni zu gehen und dort einen Postdoc zu machen, hatte Dr. Breuning auch kurz überlegt. Nach dreieinhalb Jahren universitärer Forschung sah er für sich in der Industrie aber mehr Entwicklungspotenzial: »An der Uni ist man eher ›Weltexperte‹ für eine spezielle Problematik.« Bei Merck betreut er nicht nur die Entwicklung neuer Medikamente, sondern auch häufig kürzere Projekte aus dem chemischen Zweig des Unternehmens, neben Arzneien gegen Krebs und Multipler Sklerose hat er es unter Umständen auch mit Chemikalien für Flachbildfernseher zu tun. Zu der Vielseitigkeit seines Arbeitstags gehört auch die Kommunikation mit diversen Abteilungen: Bei den Lieferanten muss er große Mengen des passenden Edukts bestellen, die Analytiker prüfen lassen, inwiefern Ausgangsstoffe verunreinigt sind, mit der Sicherheitstechnik klären, ob Versuche in großem Maßstab überhaupt durchführbar sind. »Im ›Technikum‹ bei Merck sind Betriebsanlagen und Reaktoren vorhanden, in denen wir Reaktionen in entsprechend großem Maßstab durchführen können«, erklärt Breuning.
»Mit der Sicherheitstechnik müssen wir besprechen, wie gefährlich zum Beispiel Reaktionen sind, die sich potenziell erwärmen. Im Kolbenmaßstab ist das unkritisch, aber wenn man in größere Bereiche geht, muss man gewisse Effekte aufmerksam beachten. Wir können ja nicht einfach ungeplant eine Reaktion in einem der großen Reaktoren machen und danach gucken, ob wir ihn wieder sauber kriegen.«
Damit auch Studenten und Doktoranden von dieser Forschung im großen Maßstab profitieren können und umgekehrt Unternehmen immer auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft bleiben, haben einige Konzerne inzwischen Kooperationen mit Hochschulen und Forschungsinstitutionen geschlossen. Merck betreibt zum Beispiel internationale Konzeptlabore für Forschung und Entwicklung in der Chemie. Sanofi steht in direktem Kontakt mit Instituten wie der Max-Planck- oder der Fraunhofer-Gesellschaft. Forschung und Entwicklung in der Wirtschaft und der Wissenschaft schließen sich also nicht aus. Dr. Ute Fröhlich würde sich aber immer wieder für eine forschende Stelle in einem Unternehmen wie Procter & Gamble entscheiden: »Windelexperte wird man ja nicht an der Universität.«