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»Endlich ist definiert, was ein Praktikum sein soll!«

Christiane Benner ist die erste Frau an der Spitze der IG Metall. Im audimax-Interview spricht sie über ihre Ziele und das Engagement von Studenten

Frau Benner, immer weniger Beschäftigte der Metallindustrie sind Mitglied in Ihrer Gewerkschaft. Wie wollen Sie Nicht-Mitglieder überzeugen?

Das ist so nicht richtig: 2014 sind wir zum vierten Mal in Folge gewachsen. Und ich bin optimistisch, dass uns das auch dieses Jahr gelingt. Jedes Jahr treten durchschnittlich 110.000 Beschäftigte und Studierende ein. Das entspricht der Größe einer Stadt wie Jena. Auch bei Studierenden haben wir große Zuwächse: Derzeit sind über 35.000 Studierende Mitglied der IG Metall. Sie schätzen unsere individuelle Beratung sowie die Prüfung von Arbeitszeugnissen und -verträgen.

Wer weiß schon wieviel Anspruch auf Urlaub man hat oder welche Formulierung im Arbeitsvertrag schlecht sein kann? Viele Studierende interessiert auch, was man später verdienen kann. Unsere Experten sind Fachleute vor Ort und beraten nicht nur Studierende gerne. Es gibt auch Praktisches wie Freikarten zur CeBIT und Hannover Messe und brandneu: die International Student Identity Card – kostenlos für unsere Mitglieder. Damit können unsere Mitglieder exklusive Rabatte nutzen – zum Beispiel für den nächsten Urlaub.

Was tut die größte Gewerkschaft der Welt für die ›Generation Praktikum‹, die sehr lange auf eine Festanstellung hoffen muss?

Wir gestalten die Einstiegsbedingungen in den Betrieben durch Tarifverträge mit. Zusammen mit den Betriebsräten sorgen wir dafür, dass die Tarifverträge auch Anwendung finden. Die Einstiegsbedingungen tarifgebundener Unternehmen sind besser als in nicht tarifgebundenen. Wir haben schon vor einigen Jahren eine Untersuchung in Auftrag gegeben, weil wir es wissen wollten. Die gute Nachricht ist: Absolventen im Organisationsbereich der IG Metall schneiden fast durchweg besser ab als Fachstudierende anderer Branchen. Nur jeder Zehnte absolviert nach dem Studium ein Praktikum.

Der erfolgreiche Berufseinstieg gelingt unabhängig von Praktikumserfahrungen. Anderthalb Jahre nach dem Studienabschluss sind nur zwei Prozent der Absolventen arbeitslos. Ein Hindernis bei Arbeitsbeginn stellt dann jedoch die fehlende Berufserfahrung dar: 40 Prozent der Berufseinsteiger klagen über mangelnde Einarbeitung, Hektik und Stress am Arbeitsplatz. Daran wollen wir arbeiten. Für nächstes Jahr haben wir deshalb eine Folgeuntersuchung in Auftrag gegeben.

Wie können sich Studenten bei Ihnen engagieren?

Studierende können jederzeit mit uns Kontakt aufnehmen und aktiv werden. Die IG Metall hat an zahlreichen Hochschulstandorten Ansprechpartner für Studierende und eigene Hochschulgruppen. Hier werden gemeinsam Aktionen und Veranstaltungen geplant und organisiert. An der RWTH Aachen ist so zum Beispiel eine Ringvorlesung entstanden. Hier werden vom optimalen Berufseinstieg über Crowdworking bis hin zur Zukunft der Automobilbranche viele spannende Themen mit Experten diskutiert. Außerdem bieten wir viele Seminare im Rahmen unseres Bildungsprogramms an. Alle Informationen dazu gibt es im Netz auf unserer Seite für Studierende: www.hochschulinformationsbuero.de.

Welche Chancen sieht die IG Metall im Crowdworking?

Crowdworking ist eine neue Arbeitsform mit viel Licht, aber auch Schatten. Vieles ist noch in der Entwicklung. Die Vorteile liegen auf der Hand – zum Beispiel Arbeit und Leben besser vereinbaren zu können. Aber auch die Schattenseiten wollen wir gemeinsam mit den Crowdworkern angehen. Das Ziel heißt: gute Arbeitsbedingungen. Deshalb haben wir am 1. Mai eine Plattform geschaffen: faircrowdwork.org. Hier können sich Crowdworker austauschen und beraten lassen. Aktuell befragen wir Crowdworker: Was ist euch wichtig? Wie wollt ihr arbeiten?

Gemeinsam können wir auch in der neuen Arbeitswelt vieles erreichen: faire Bezahlung, ein Arbeitsumfeld mit wertschätzendem Umgang, Transparenz und eine planbare Zukunft. Das sind Themen, die uns als Gewerkschafter fordern. In den Betrieben und Unternehmen, wo wir auf Grundlage des Tarifrechts und der Mitbestimmungsgesetze mitwirken, gelingen uns in der Regel vorteilhafte Regelungen im Interesse der Beschäftigten. Unser Ziel ist es, diese Rechte, die wir in der analogen Arbeitswelt mit den Beschäftigten erarbeitet haben, in die ›digitale (Arbeits-)Welt‹ zu übertragen.

Inwiefern muss oder kann man Leiharbeit entgegenwirken?

Wenn ich auf Absolventenmessen oder bei Vorlesungen mit angehenden Ingenieuren spreche, frage ich regelmäßig nach deren Wunscharbeitgeber. Aus Studien ist bekannt, dass die meisten zu den Automobilherstellern wollen. Diese Erfahrung habe auch ich gemacht. Mir hat noch nie ein Absolvent erzählt, dass er bei einem Personaldienstleister anfangen will. Wer dorthin geht, macht das oft, weil ihn sein Wunscharbeitgeber nicht genommen hat. Die Beschäftigten hoffen dann, über einen Einsatz als Leiharbeiter oder mittels Werkvertrag den Einstieg beim Wunscharbeitgeber zu schaffen. Die Praxis sieht aber oft so aus, dass die Absolventen über Jahre bei einem Entwicklungsdienstleister festsitzen, ohne übernommen zu werden.

Von Personaldienstleistern weiß ich, dass es einen kritischen Zeitpunkt für die gewünschte Übernahme gibt: Wer zwischen drei und fünf Jahren den Absprung vom Personaldienstleister nicht geschafft hat, bleibt dort meist hängen. Die Bundesregierung hat jetzt einen Gesetzentwurf zum Einsatz von Leiharbeit und Werkverträgen vorgelegt. Wir haben als IG Metall keineswegs etwas dagegen, wenn Unternehmen spezielle Aufgaben nach außen an Fremdfirmen vergeben. Aber wir haben klipp und klar etwas dagegen, wenn mit Werkverträgen bestehende Standards gesenkt werden sollen.

Leider löst dieser Gesetzesvorschlag bei uns keine vorweihnachtlichen Gefühle aus. Beim Thema Werkverträge sollen die Betriebsräte lediglich mehr Informationsrechte erhalten. Punkt! Zu Deutsch: Betriebsräte sollen künftig zusehen können bei Lohndumping und Auslagerungen. Aber mitbestimmen und gestalten dürfen, das sollen sie nicht.

Was hat der flächendeckende Mindestlohn bisher gebracht?

Aus meiner Sicht viel Gutes: Der Mindestlohn hat die Lebensbedingungen von insgesamt vier Millionen Menschen, die vor kurzem noch für weniger als 8,50 Euro die Stunde gearbeitet haben, verbessert. Die von vielen Arbeitgebern und Ökonomen prophezeiten negativen Beschäftigungseffekte sind nicht eingetreten. Im Gegenteil: Im Vergleich zum letzten Jahr gibt es deutlich mehr Beschäftigungsverhältnisse, die sozial abgesichert sind. In der Vergangenheit haben viele Unternehmen – vor allem in der Medienbrache – Absolventen mit billigen Praktika abgespeist.

In extremen Fällen jahrelang. Das Mindestlohngesetz sorgt hier endlich für Klarheit: Wer ein abgeschlossenes Studium hat, bringt Kompetenzen ins Unternehmen ein und muss dafür wenigstens den Mindestlohn erhalten. Praktika sind sinnvoll während des Studiums. Denn hier kann das Studium mit der betrieblichen Praxis abgeglichen werden. Wir haben jetzt endlich eine Definition, was ein Praktikum sein soll: nämlich ein Lernverhältnis.

Wieso sollte der Mindestlohn trotz aktueller Flüchtlingsproblematik bestehen bleiben?

Gegenfrage: Warum sollte jemand für die gleiche Arbeit weniger als den Mindestlohn erhalten? Ich wünsche mir eine echte Willkommenskultur. Im ersten Moment erfordert dies natürlich zusätzliche Anstrengungen: Sprachkurse müssen organisiert, fachliche Unterstützung geboten werden. Auch wenn das erstmal aufwendig ist. Ich bin überzeugt, das lohnt sich.

Seit 1995 gibt es für die Metallindustrie die 35-Stunden-Woche, also den 7-Stunden-Tag. Was soll sich in Zukunft noch für die Arbeitszeiten ändern?

Über eine halbe Million Menschen – Mitglieder wie Nichtmitglieder – haben sich 2013 an unserer großen Beschäftigtenbefragung beteiligt. Die Ergebnisse waren nicht nur ein Auftrag an die Politik. Sondern die Ergebnisse wirken sich auch auf unsere eigene Arbeit aus. So haben wir auf dem Gewerkschaftstag im Oktober eine große Arbeitszeitkampagne beschlossen.

Bei der Beschäftigtenbefragung wurde uns eine klare Botschaft mit auf den Weg gegeben: Flexibilität darf keine Einbahnstraße sein. In tarifgebundenen Betrieben und Betrieben mit Betriebsrat sind Arbeitszeiten geregelt und begrenzt. Es gibt spezielle Vereinbarungen, die Beschäftigten mehr Freiräume geben, wenn es um mobile Arbeit, um Zeit für Familie oder um Weiterbildung geht.

Nicht mal jedes fünfte Gewerkschaftsmitglied ist weiblich. Wieso engagieren sich so wenige Frauen in der IG Metall?

Naja, man muss das in Relation sehen: Im Organisationsbereich der IG Metall – also in Industrie und im Handwerk – sind deutlich weniger Frauen als Männer beschäftigt. Über 400.000 Frauen sind bei uns Mitglied, Tendenz steigend. Gemeinsam mit ihnen gehen wir die drei Themen Vereinbarkeit von Arbeit und Leben, Entgeltgerechtigkeit und Karrierechancen an. Seit Jahren machen wir uns stark für mehr Frauen in den Führungsetagen. Bei der IG Metall arbeiten 30 Prozent der Frauen in Führungspositionen.


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