Stellen wir uns Europa als ein Klassenzimmer vor, in dem anstelle von Schülern die europäischen Hauptstädte auf den Schulbänken sitzen. In so einem Klassenzimmer wäre Berlin der coole Hipster, Paris die leidenschaftliche Verführerin, Barcelona die aufstrebende Künstlerin und Brüssel… nun ja, Brüssel wäre der Klassenstreber vorne in der ersten Reihe. Seien wir mal ehrlich: Brüssel gilt nicht gerade als sexy. Aber es ist wie damals in der Schule, wenn es um die wirklich kniffligen Fragen geht, kommt man am Klassenstreber nicht vorbei. Und auch Europa kommt an Brüssel nicht vorbei, wenn entscheidende politische Fragen anstehen. Genau darum wollte ich mir Brüssel einmal aus der Nähe ansehen. Nach meinem Bachelorabschluss in European Studies hatte ich das Gefühl, die EU nur aus Büchern und Powerpoint-Präsentationen zu kennen. Nach all der Theorie wollte ich die Brüsseler Entscheidungsprozesse endlich einmal in der Praxis erleben. Darum bewarb ich mich um ein dreimonatiges Praktikum im Europabüro der Konrad-Adenauer-Stiftung und konnte kurz vor der Europawahl 2014 meinen ganz persönlichen Praxistest beginnen.
Mehr als 8.000 Praktikanten
Gleich bei meiner Ankunft machte ich Bekanntschaft mit einem echten Brüsseler Phänomenen: dem Grauen der Praktikantenzimmer. Die Zahl der Brüsseler Praktikanten zu schätzen wurde oft versucht und nie erreicht, eine halbwegs offizielle Zahl besagt, dass es mindestens 8.000 sein müssen. Da der Großteil der Praktikanten nur kurze Zeit bleibt und gleichzeitig wenig Geld zur Verfügung hat, sind auch die Erwartungen an die Unterkünfte ziemlich gering. Auch mein Motto bei der Zimmersuche lautete: ›Für die drei Monate wird’s schon gehen.‹ Der Wohnungsmarkt hat sich der Nachfrage angepasst, was im Klartext heißt, dass jede Abstellkammer, jeder Dachboden und jedes verlassene Kinderzimmer für eine saftige Miete als so genanntes Praktikantenzimmer vermietet wird. Darum gehören Schauergeschichten über WG-Zimmer, in die es hineinregnet, schon fast zum guten Ton unter Brüsseler Praktikanten. Auch ich teilte meine erste WG mit aktiven Mausefallen und kaputten Treppenstufen, bevor ich nach einiger Suche dann eine zeitgemäße Wohngemeinschaft gemeinsam mit einer Französin und einem Spanier finden konnte. Wen es also nach Brüssel zieht, sollte sich bewusst sein, dass der Begriff Zimmer reine Auslegungssache ist.
Kirschbier und Pommes
Für deutsche Praktikanten ist die erste Anlaufsstelle zum Kontakte knüpfen der fast schon legendäre deutsche Stammtisch auf dem Place Jourdan. Dort lernte ich auch, dass sich die meisten Klischees um die Brüsseler Praktikantenszene glücklicherweise nicht bestätigen: Weder werden nonstop Visitenkarten ausgetauscht, noch herrscht ein karrieregeiler Bitchfight um die neusten Stellenausschreibungen. Im Gegenteil: Nach einem langen Arbeitstag will man sich lieber auf das köstliche belgische Kirschbier und die berühmten Pommes von ›Maison Antoine‹ konzentrieren, statt Karierretipps auszutauschen. Trotz dessen, dass ein gesunder Konkurrenzkampf herrscht, ist das Zusammenleben unter den Young Professionals also weit angenehmer, als es einschlägige Dokus und Artikel über die Praktikantenhauptstadt vermuten lassen.
Vorbereitung der Europawahl
Da ich bei einer Stiftung arbeitete, gehörte es zu meinen Aufgaben, die Europawahl wissenschaftlich aufzuarbeiten. Während die Europawahl in Deutschland von der Öffentlichkeit nur am Rande wahrgenommen wurde, versetzte eben diese Wahl ganz Brüssel monatelang in Spannung. Durch meine Arbeit war ich mittendrin im Mini-Kosmos der EU, genau wie ich es mir gewünscht hatte. Wie oft war ich im Studium durcheinander gekommen, wenn es um die Unterschiede zwischen dem Europäischen Rat, dem Rat der Europäischen Union und dem Europarat ging. Aber seitdem ich drei Monate lang jeden Morgen in einem Strom von Anzugträgern an diesen Institutionen vorbeigelaufen bin und täglich mit ihren Entscheidungen arbeiten musste, habe ich diese Einrichtungen kein einziges Mal mehr verwechselt.
Aber nicht nur der EU-Zirkus ist die Reise wert, sondern auch Brüssel selbst. Im Sommer finden regelmäßig Kunst- und Musikfestivals statt und hinter jeder Ecke scheint ein kleiner Park zu warten, der zum Sonnen und Entspannen einlädt. Außerdem gelingt es Brüssel ziemlich mühelos, Geschichte und Moderne zu verbinden. Neben den prunkvollen Zunfthäusern und Kathedralen im Stadtzentrum findet man ganze Streetart-Häuserwände, die den Lieblings-Comicfiguren der Belgier gewidmet sind. Dass Tim und Struppi, Lucky Luke und die Schlümpfe aus Belgien kommen, macht die Brüssler mindestens ebenso stolz wie ihre Pommes und ihre Schokolade. Eine weiteres belgisches Kulturgut sind die Trödel- und Antiquitätenmärkte, zum Beispiel der tägliche Markt auf dem Place du Jeu de Balle. Die Flohmärkte waren eine der wenigen Chancen für mich, mit echten Belgiern in Kontakt zu kommen und mein Französisch aufzupolieren. Denn abgesehen davon, dass die Stadt mit den Amtsprachen Französisch und Niederländisch offiziell zweisprachig ist, spricht ohnehin fast jeder, mit dem man in Kontakt kommt, Englisch. Die internationalen Organisationen lassen grüßen!
Meine Lieblingsbeschäftigung an den Wochenenden war es, die unglaublich billigen Tickets der belgischen Bahn für unter 25-Jährige zu nutzen. Bei meinen Wochenend-Touren erkundete ich die alte Diamantenhochburg Antwerpen, das mittelalterliche Gent und Brügge. Auch Amsterdam lag mit drei Zugstunden Entfernung quasi um die Ecke. Außerdem fuhr ich oft an die Nordsee, um dem Hochsommer in der Stadt zu entkommen. Trotzdem glaube ich, dass ich es auch drei Monate am Stück in Brüssel ausgehalten hätte, denn eigentlich hätte ich noch viel mehr Zeit gebraucht, um die Stadt wirklich kennenzulernen. Das Vorurteil, Brüssel sei hässlich, kann nur von Menschen geprägt worden sein, die an einem verregneten Tag in einem Touri-Bus feststeckten und lediglich graue EU-Gebäude und das Atomium fotografiert haben. Brüssel gilt vielleicht nicht als sexy – aber es hat Biss. Ein bisschen wie der Klassenstreber, über den zu Schulzeiten alle gelästert haben. Und der dann zehn Jahre später beim Klassentreffen alle total umhaut.