»On an island in the sun, We’ll be playing and having fun. And it makes me feel so fine, I can’t control my brain.«
Weezer besingt sie, Thomas D. rappt über sie und die Red Hot Chili Peppers greifen für sie in die Seiten: Die Reiselust, sie ist ein viel behandeltes Thema der Populär-Musik. Und nicht nur das: Sie hat wohl schon nahezu jeden von uns das ein oder andere Mal berührt und uns mit ihrem Duft nach Abenteuer die Sinne vernebelt. Wer kennt ihn nicht, den Schulfreund, der ein Jahr lang Australien erkundete und Facebook wechselweise mit Party- und schier abartig schönen Strandbildern überflutete, die Kommilitonin, die nach ihrem Auslandssemester monatelang in ihrem Post-Erasmus-Syndrom versank und mit leuchtenden Augen von ›der Zeit ihres Lebens‹ berichtete?
Gerade die Zeit zwischen 20 und 30 scheint prädestiniert dafür zu sein, die große weite Welt zu erkunden, man ist körperlich in der Lage, die Ansprüche sind bezahlbar und schließlich wird man kaum mehr im Berufsleben so lange Semesterferien oder gar Urlaubssemester zur Verfügung haben. Natürlich gibt es auch die Sabbaticals oder von Zeitkonten mühsam zusammengesparten Langzeiturlaube, die sich einige Arbeitnehmer gönnen, selten aber bietet sich wieder ein Lebensabschnitt so zum Reisen an, wie es die Studienzeit tut. So mancher Student soll ja mehr Stempel im Pass als Prüfungen abgelegt haben. Aber warum eigentlich? Was treibt uns denn hinaus, warum juckt der Sand in den Schuhen zuhause permanent zwischen den Zehen?
Zahlen und Fakten zur Reisemanie
Bei der Suche nach der Antwort auf diese Fragen ist es anfangs hilfreich, sich der Thematik zuerst durch einen Blick auf die nackten Fakten unserer Reisemanie zu nähern:
- Allein im Jahr 2014 fuhren 54,6 Millionen Deutsche in den Urlaub, das ist weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung.
- Insgesamt kommen wir dabei den Angaben der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen zufolge auf eine stolze Zahl von 70,3 Millionen Urlaubsreisen – macht im Schnitt jährlich etwa 1,3 Reisen pro Person.
- Der Anteil an Pauschal– oder Bausteinreisen beträgt dabei etwa 40 Prozent.
- Im vergangenen Jahr gaben wir etwa 4,4 Prozent unseres gesamten privaten Verbrauchs für Reiseaufwendungen aus, der Aufwand für Auslandsreisen betrug dabei unglaubliche 69,9 Milliarden Euro.
- Gut zwei Drittel des ›reiselustigsten Völkchens Europas‹ steuert vorzugsweise Nah- und Mittelstreckenziele an, »wir fahrn’ auf Malle« liegt dabei schwer im Trend, wie auch alle weiteren Mittelmeerländer.
- Nur bei 7,6 Prozent der Reisen handelt es sich um Fernreisen, wiederum 30 Prozent der Urlaubswütigen verteilt sich auf Ziele in Deutschland.
So weit, so gut, auch die Fakten sprechen eine deutliche Sprache: Wir wollen raus. Etwas mehr als einmal pro Jahr suchen wir das Glück in der Ferne, das uns die Heimat partout nicht bieten kann und es ist uns einiges an Geld wert. Eine der einfachsten Begründungen für dieses fast lemmingartige Verhalten wäre vielleicht ›because we can‹: Unser Wohlstand, unsere soziale Sicherheit und unser Kontingent an Freizeit ermöglichen uns das Ausschwärmen. Die sich seit dem 19. Jahrhundert stetig entwickelnde Reise-Infrastruktur für die Massenmobilität steht bereit und ein ganzer Industriezweig giert nach immer mehr Weltenbummlern, die auf ihren Pilgerreisen zu weißen Sandstränden mit Palmenkulisse ihre Reisekasse klingeln lassen.
Warum reisen wir gerne?
Die reine Option zum Reisen beantwortet aber noch keineswegs das Warum. Experten diverser Disziplinen haben sich bereits daran gemacht, das Reisephänomen zu sezieren, die Bandbreite reicht dabei von Historikern, Geographen, Psychologen, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern bis hin natürlich zu Schriftstellern. Verschiedenste Beweggründe touristischer Unternehmungen stehen somit nebeneinander im Raum. Die Rede ist vom berühmten Tapetenwechsel, von Regeneration, aber auch vom urzeitlich in uns verankerten Nomaden-Gen – streunten nicht schon unsere steinzeitlichen Ahnen als Jäger und Sammler auf der Suche nach neuen Jagdgründen durch die Lande?
Hans-Magnus Enzensberger schrieb 1969 einst die ›Theorie des Tourismus‹ und sah im Reisen vor allen Dingen eine Flucht aus dem industriell geprägten, monotonen Alltag. Demzufolge begeben wir uns also romantisch-verklärt auf unbeschrittene Pfade und suchen nach Idealbildern: Unberührte Natur in Island, gelebte Maorikultur in Neuseeland – und übersehen dabei gerne einmal den für Touristen aufgestellten Mülleimer neben dem Vulkan und den optimierten Wartebereich der Haka-Show.
Auch die Flucht vor alltäglichen Verbindlichkeiten, das Sehnen nach dem Freisein, entlarvt der Autor als Trugbild:
»Indem wir auf die Rückfahrkarte in unseren Taschen pochen, gestehen wir ein, dass Freiheit nicht unser Ziel ist, dass wir schon vergessen haben, was sie ist.«
Der soziale Zwang zu verreisen
Nicht so sehr der Fluchttrieb, sondern vielmehr den regelrechten Zwang zum Verreisen hat der Soziologe Hans-Joachim Knebel im Blick – Kollegen, Nachbarn und Freunde buchen Kreuzfahrten, in der Werbung wird ständig darüber geredet, also mache ich das auch, keine Frage. Das Prestigedenken dieses Ansatzes gipfelt schließlich in Ansichtskarten und Souvenirs. Sie sollen sagen:
»Schau mal, welch tolle Orte ich schon wieder erkunde, mir geht es blendend. Gruß daheim.«
Übertragen auf die heutige Zeit wäre das dann wohl die Erklärung für die Social-Media-Reiseergüsse unserer Generation, das Barcelonagruppenbild in der Timeline als Statussymbol – fehlt es, gehört man nicht dazu, so das Suggestiv. Wiederum andere bringen das Reisen mit der Maslow’schen Bedürfnispyramide zusammen und bewerten es damit als triebgesteuertes Verhaltensmuster. Auf allen Stufen menschlicher Bedürfnisse lassen sich hier die Beweggründe fürs Reisen verorten: Wo sonst kann man besser essen, trinken und schlafen, fühlt man sich in der Hotelanlage geborgen und knüpft leichtfertig wie ein Kommunikationscoach Kontakte zu anderen, wenn nicht im Urlaub.
Außerdem zählt ›Mich selbst finden‹ wohl zu den mit am häufigsten geäußerten Motiven für den Gang ins Ausland – und tut es nicht irgendwie auch gut, wenn die anderen bewundernd mit der Zunge schnalzen, wenn ich vom Island-Hopping auf den Philippinen erzähle? Das passt schon alles irgendwie, physiologische, sicherheitssuchende, soziale, egozentrierte und selbstfinderische Motive, ist aber als Erklärungsansatz insgesamt reichlich verwaschen. Da ist es schon naheliegender, Reisen als modernes Pilgertum zu betrachten, mit dem Hard Rock Café in New York als quasi-sakral gehypte Pilgerstätte. Oder die Suche nach perfekten Traumwelten: Eigens hierfür erschaffene Institutionen der Tourismusbranche – Tropical Island und Disney World lassen grüßen – laden primär dazu ein, sich ganz einem inszenierten Erlebnis hinzugeben. Pommes unter Plastikpalmen, Gruppenkuscheln mit Mickey Mouse, hier winkt die völlige Loslösung von alltäglichen Pflichten, das Musicalmedley am Abend wiegt uns in künstlich geschaffener Glückseligkeit.
Grundmotiv des Reisens: die Differenzerfahrung
Die Toursimusforscherin Dr. Kristiane Klemm der Freien Universität Berlin subsumiert in ihrer Abhandlung über Reisemotive, dass allen Erklärungsversuchen ein Grundmotiv gemein sei: die Differenzerfahrung. Will heißen, der Antrieb für eine Reise liegt darin, sich vom Alltagsblues abzuwenden und eine Andersartigkeit zu erfahren. Diese Andersartigkeit kann viele Gesichter haben:
Den eigenen Körper bei der Bergwanderung wieder intensiver spüren, beim Fallschirmsprung den Kitzel des Abenteuers erleben, die Schönheit unberührter Natur in sich aufsaugen oder die Energie eines Eingeborenenrituals auf sich wirken lassen – all das steht in starkem Kontrast zur täglichen Routine in der Heimat. Im Rausch dieser halbrealen Traumblase ›Reise‹ fühlen wir uns frei und glücklich. Wir sind Freizeitjunkies, getrieben von der Sehnsucht nach einer schöneren Welt, in der wir authentisch leben und erleben, und so ziehen wir immer wieder erneut los.
Und was hat das jetzt mit Pinguinen auf sich? Wer, vielleicht unter den älteren Semestern oder als Kind, zwischen 1988 und 1992, in der Weltgeschichte unterwegs war, der könnte auf seiner Reise auch auf zwei sehr ungewöhnliche Touristen getroffen sein – Joe und Sally, zwei etwa einen Meter hohe Plastikpinguine, posierten damals vor dem Eiffelturm, den Pyramiden von Gizeh sowie den Korallenriffen der Managaha Islands. In einem Reisetagebuch hielten sie Erinnerungen fest, unter Bildern der beiden in Schnorchelausrüstung standen Sätzen wie:
»Unter Wasser beobachten wir Meerestiere, wogendes Seegras, Luftblasen und unsere Leichtigkeit. Wir vergessen die Welt über Wasser, den grauen Alltag und unsere kleinen Probleme.«
Die ›Sehnsucht der Pinguine‹, ein seltsam anrührendes Abschlussprojekt des einstigen Philosophiestudenten und heutigen Fotografen Willy Puchner, wurde in Buchform weltbekannt. Nach siebenjähriger Foto- und Reiseabstinenz ließ er sich hierfür vier Jahre lang mit seinen ungewöhlichen Begleitern treiben, die Sehnsucht fungierte dabei als Motor. »Das Projekt ist eine Geschichte von zwei Wesen, eigentlich Menschen, die uns alle etwas angeht«, so der Künstler. »Es ist die Frage nach dem Glück. Für mich ist das große Glück, wenn zwei verliebte Menschen auf Reisen sind und immer wieder für den ein oder anderen Moment innehalten.«
Seit dieser Tour ist Puchner immer weiter eifrig am Reisen. Dabei führt er akribisch Tagebuch, skizziert, sammelt, fotografiert, zeichnet und schreibt – und bezeichnet sein Verhalten selbst als ›organisiertes Fernweh‹. Dieses konjungiert er keineswegs negativ, im Gegenteil, es ist ein Zustand, den er gerne zulässt, auch wenn dieser vielleicht durch schlechtes Wetter, den tristen Alltag oder sogar die bunten Werbeplakate ausgelöst wurde. Auch Puchner sucht – gemeinsam mit seinen Pinguinen oder allein – die Differenzerfahrung: »Ich habe in den letzten Jahren immer wieder Reisen gemacht, die mir Angst machten, ob das nun Indien oder Afrika war. Ich hatte Angst, dass ich krank werden könnte, dass ich den Unterschied zwischen arm und reich nicht aushalte, die fremde Kultur mir zu fremd ist. Und gerade bei diesen Reisen verspürte ich aufregende Gefühle. Das Fremdfühlen zeigte mir einen Zustand, dass ich ganz bei mir bin, mich besonders stark spürte.«
Auf der Reise mit seinen zwei Plastikpinguinen brachte Puchner die schmale Balance zwischen Imagination und realem (Massen-)Tourismus an die Oberfläche, konserviert in Aufnahmen, ganz im Stile von 08/15-Fotoalben beliebiger Pauschalreisenden. Dabei scheint die Fragilität ein jeder Reiseillusion mit durch und fordert den Betrachter förmlich heraus, sich mit einem Augenzwinkern ein wenig über seine eigene Reiseobsession zu wundern und doch gleichzeitig die Schönheit des Reisens zu erkennen. Ob die Reiselust wohl auch ein Stückweit ein Phänomen der Jugend ist und mit dem Alter vergeht? Willy Puchner hofft, dass dieser innere Antrieb wohl nie ganz versiegen wird: »Ich denke, dass sich Fernweh im Lauf des Lebens ändert, hat es doch mit Illusionen und Visionen zu tun, mit körperlicher Beweglichkeit, geistiger Wendigkeit, mit Hoffnung, Projektionen, Wünschen oder mit der Offenheit von Gefühlen. Obwohl ich mir wünschen würde, dass der ältere Mensch – so auch ich – noch seine Träume hat, und nicht griesgrämig seiner ausweglosen Realität folgt, sondern sich in Räume, Phantasien versetzt, die er im besten Fall dann auch bereist.«
Bevor es soweit kommen sollte, lasst euch doch noch eine Weile vom Sog des Fernwehs erfassen. Ganz im Sinne der Red Hot Chili Peppers: »Let’s go get lost«!