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Der Ruf nach Innovation

Prof. Dr. Lutz Eckstein über seinen Weg, die Automobilindustrie und junge Ingenieure.

Wie sind Sie Leiter des Lehrstuhls und Instituts für Kraftfahrzeuge an der RWTH Aachen geworden?

Das erste Mal wurde ich während meiner Zeit bei der damaligen Daimler-Chrysler AG angesprochen, mich auf eine Professur zu bewerben. Dadurch wurde mir bewusst, wie wichtig Veröffentlichungen für eine erfolgreiche Bewerbung um eine Professur sind. Ein Unternehmen ist natürlich nur begrenzt daran interessiert, Veröffentlichungen von Mitarbeitern zu unterstützen – mit einer Ausnahme: Patentanmeldungen. Patente können für ein Unternehmen einen großen Wert haben und zählen in der Wissenschaft als qualitativ hochwertige Veröffentlichungen. Als ich über einen Headhunter das Angebot bekam, bei der BMW AG die Verantwortung für das Anzeige- und Bedienkonzept aller Marken zu übernehmen, war es in meiner Entscheidungsfindung ein nicht unwichtiger Aspekt, dass ich durch das Kennenlernen eines zweiten Unternehmens meine Chancen auf eine Professur weiter verbessern könnte. Im Jahr 2009 hat mich Prof. Dr. Henning angerufen, der die Berufungskommission für die Besetzung der Professur für Kraftfahrzeuge an der RWTH Aachen geleitet hat. Er hat mich gefragt, ob ich mich auf diese Stelle bewerben möchte, was ich angesichts des hervorragenden Rufes des Instituts und der Freiheitsgrade, die man als Professor genießt, gerne getan habe. Die Berufungskommission hat mich daraufhin eingeladen, einen Fachvortrag zu halten und meine Vorstellungen zur Ausrichtung von Forschung und Lehre zu präsentieren. Schließlich habe ich den Ruf der RWTH Aachen erhalten und wurde eingeladen, Gespräche mit der Fakultät und dem Rektorat zur Ausstattung und den Rahmenbedingungen zu führen. Wir sind uns recht schnell handelseinig geworden, so dass ich am Montag, dem 5.10.2009 durch den damaligen Rektor, Herrn Prof. Dr. Schmachtenberg, vereidigt und schon am nächsten Tag auf dem Aachener Kolloquium Fahrzeug- und Motorentechnik als neuer Leiter des Instituts für Kraftfahrzeuge vorgestellt wurde.

Wie sieht ihr Job bzw. Alltag aus?

Der Alltag ist extrem vielfältig, was mir große Freude bereitet. Ich begreife meine Aufgabe auch nicht als Job, sonst wäre ich nicht motiviert, jeden Tag 12 bis 14 Stunden in unterschiedlichen Rollen zu agieren. Beginnen möchte ich mit der Rolle des Hochschullehrers, in der ich nicht nur Wissen, sondern auch Erfahrungen aus meiner beruflichen Praxis weitergeben möchte. Jungen Menschen etwas mit auf den Weg zu geben, bereitet mir sehr viel Freude, weshalb ich dieses Interview sehr gerne führe. Die zweite Rolle ist die des Wissenschaftlers, in welcher ich jeden Tag etwas Neues lernen und auch vom Erkenntniszuwachs meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern profitieren darf. Auf dieser Grundlage versuche ich, gemeinsam mit meinem Team neue Ideen und Ansätze zu entwickeln, die einen Ausgangspunkt für die Beantragung neuer Forschungsprojekte darstellen könnten. Das ist in meinem Fall sicher die dominante Aufgabe, um einerseits spannende Erkenntnisse erzeugen und publizieren, andererseits über 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an meinem Institut beschäftigen zu können. Die dritte Rolle ist diejenige eines Innovationsmanagers: es genügt aus meiner Sicht nicht, viel zitierte Publikationen zu erzeugen, denn diese haben eine begrenzte gesellschaftliche Relevanz. Um den Straßenverkehr tatsächlich sicherer und effizienter zu machen, gilt es, die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erfindungen gemeinsam mit Partnern aus der Industrie in Innovationen zu transformieren, also in reale Produkte in Form von Fahrzeugen, Systemen, Komponenten und Algorithmen. Wenn es uns nicht gelingt, etablierte Unternehmen zu überzeugen, kann das auch dazu führen, dass wir die Gründung eines neuen Unternehmens anstoßen, um den Reifegrad der jeweiligen Technologie weiter treiben zu können. Schließlich führen die beschriebenen Rollen und daraus resultierenden Erfahrungen zu Anfragen unterschiedlichster Organisationen, beratend tätig zu werden. Das können Unternehmen, aber auch Ministerien sein. Eine solche Tätigkeit erweitert den Horizont nochmals und hilft mir, die Funktion, aber auch die Zwänge der jeweiligen Organisation besser zu verstehen. Unabhängig davon engagiere ich mich ehrenamtlich stark im VDI, da ich davon überzeugt bin, dass wir zur Lösung der vielfältigen Herausforderungen, mit denen wir aktuell konfrontiert werden, vor allem innovative Technologien entwickeln und junge Menschen für den Beruf des Ingenieurs begeistern müssen. Der VDI ist zugleich mit über 130.000 Mitgliedern eine starke Organisation, die auch in der Politik Gehör findet – schließlich hat der VDI heute schon mehr Mitglieder als so manche politische Partei. Als »frisch gebackener« Präsident des VDI wünsche ich mir noch viel mehr Engagement von Studierenden und jungen Ingenieurinnen und Ingenieuren, damit es uns gelingt, unsere Gesellschaft und die sie tragende Volkswirtschaft zukunftsfähig aufzustellen.

In welchen Fragen beraten Sie das Verkehrsministerium?

Zunächst möchte ich festhalten, dass der wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr in der Wahl der Themen völlig frei ist und politisch unabhängig agiert. Natürlich stehen wir in einem regelmäßigen Austausch mit der jeweiligen Leitung des Ministeriums sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, so dass uns die drängenden Themen bekannt sind. Wie man an den auf der Homepage des BMDV veröffentlichten Stellungnahmen erkennen kann, sind die von uns gewählten Themen sehr vielfältig, befassen sich einerseits mit akuten Fragen wie der Verbesserung des Schienenverkehrs, andererseits mit perspektivischen Herausforderungen wie zum Beispiel der notwendigen Kompensation der sinkenden Einnahmen des Bundes aus der Mineralölsteuer. Besonders spannend finde ich persönlich Fragen hinsichtlich des Potentials innovativer Technologien, wie zum Beispiel des automatisierten Fahrens und Fliegens. Dabei geht es darum, geeignete Rahmenbedingungen zu empfehlen, damit sich innovative Mobilitätsoptionen etablieren können.

Wo muss sich die Automobilindustrie hinentwickeln? Wo gibt es Nachholbedarf?

Das ist natürlich eine spannende und sehr schwer zu beantwortende Frage, denn es gibt nicht »die Automobilindustrie«. Ganz allgemein kann man sagen, dass die Digitalisierung in Zukunft eine noch größere Rolle spielen wird – nicht nur in den Fahrzeugen und deren Systemen, sondern auch außerhalb der Fahrzeuge. Eine moderne Verkehrsinfrastruktur sammelt ihrerseits Daten, verarbeitet diese und stellt höherwertige Informationen bereit. Automatisierte Fahrzeuge lernen nicht individuell, sondern im sogenannten Back-End quasi, damit die Updates der Fahrzeugintelligenz hinreichend abgesichert werden können, bevor diese auf die Fahrzeuge over-the-air aufgespielt werden.  Deshalb spielt Software in Zukunft eine noch stärkere Rolle, da diese sowohl zur Abbildung der Fahrzeug- und Verkehrsintelligenz, als auch zur Realisierung leistungsfähiger Simulations- und Optimierungsmethoden erforderlich ist. Das viel zitierte Trainieren von künstlichen neuronalen Aspekten stellt dabei nur einen von vielen Bausteinen dar.  Ich möchte deshalb jeder angehenden Ingenieurin und Ingenieur empfehlen, sich nicht ausschließlich auf die physische und energetische Gestaltung eines Produktes oder Prozesses zu fokussieren, sondern sich auch mit der Frage der informatorischen Gestaltung, also den Algorithmen und deren Implementierung in Form von Software auseinander zu setzen.

Sie haben über 80 Patente angemeldet. Woher kommt dieser Erfindergeist?

Das begann in meiner Kindheit: Meine Großmutter und mein Vater haben mir immer wieder vom Urgroßvater erzählt, der eine Korkfabrik gegründet und immer wieder Erfindungen zum Patent angemeldet hat – darunter waren Bindemittel, um aus Kork Rettungsringe und Flaschenkorken herzustellen, aber auch ungewöhnliche Dinge wie eine Waschmaschine oder eine faltbare Brücke. Besonders motiviert hat mich die Verleihung des Artur Fischer Preises, den ich 1995 für meine Studienleistungen erhielt. Herr Fischer hat mir diesen persönlich übergeben und mich auf den Stellenwert von Patenten hingewiesen – mit damals schon über 4000 Patenten ist er ein unerreichbares Vorbild. Schließlich habe ich während meiner Zeit in der Industrie erkannt, dass Patentanmeldungen eine der ganz wenigen Formen der Veröffentlichungen sind, die gewünscht sind. Mir hat es auch zunehmend Freude bereitet, eine Patentanmeldung selbst zu »konstruieren« – ohne Patentanwalt kann man für 60 Euro beim Deutschen Patentamt eine Erfindung zum Patent anmelden, hat dann sicher keinen vergleichbaren Schutz wie bei einer professionell ausgearbeiteten Anmeldung.

Es heißt, in der Automobilindustrie werden weniger Ingenieure gesucht. Ist das so? Und wenn ja, warum?

Nein, das ist nicht so – es werden anders qualifizierte Ingenieurinnen und Ingenieure gesucht als vor 20 oder 30 Jahren. Faktisch gibt es einen erheblichen Mangel an Fachkräften, nicht nur im Stuttgarter und Münchner Raum ist der Arbeitsmarkt leergefegt. Das zeigt sich auch an den Jobangeboten, die den Bewerberinnen und Bewerbern immer größere Freiräume bieten, gerade in Bezug auf Arbeitsort und Arbeitszeit. Ferner kommen zu den etablierten Arbeitgebern ständig neue hinzu: mittlerweile entwickeln auch IT-Unternehmen ganze Fahrzeuge, es entstehen neue Hersteller im europäischen Ausland, Tochterunternehmen von Firmen aus dem Silicon Valley suchen gerade in Deutschland Ingenieurinnen und Ingenieure, da diese hervorragend ausgebildet sind.

Wie können sich junge Ingenieure in die weitere Entwicklung einbringen?

Ganz grundsätzlich möchte ich jeden jungen Menschen motivieren, sich ehrenamtlich zu engagieren – ob in lokalen Vereinen, in fachspezifischen Vereinen wie der Formula Student oder auch im Katastrophenschutz. Besonders aufmerksam machen möchte ich auf den VDI, also den Verein Deutscher Ingenieure e.V., da dieser gerade für Studierende und junge Menschen sehr vielfältige Chancen bietet, von der persönlichen Vernetzung über Weiterbildung bis hin zum Mentoring. Darüber hinaus stellt dieser eine durch ehrenamtliche Mitglieder getragene Organisation dar, die aufgrund ihrer Größe und Neutralität bei der Politik Gehör findet. Ich selbst habe viele Jahre versucht, in meinen unterschiedlichen Rollen eine Wirkung zu entfalten – kein Format und kein Verein, den ich kenne, hat mehr Power als der VDI. Diese weiter auszubauen und gemeinsam zu nutzen, um insbesondere unsere gesellschaftlichen Herausforderungen zu lösen, halte ich für absolut notwendig.

Was ist ihr persönlicher Ratschlag an junge Ingenieure?

Gehen Sie mit offenen Augen durch Leben. Fragen Sie sich, warum wer welche Botschaft sendet. Beispielsweise kommunizieren Unternehmen – je nach Abhängigkeit vom Kapitalmarkt – ganz stark ausgerichtet auf Investoren. Das gilt nicht nur für Start-ups, sondern auch für große Aktiengesellschaften, die an der Börse in New York notiert sind. Gehen Sie positiv durchs Leben, mit dem Willen, Dinge zu gestalten. Begnügen Sie sich nicht mit Kritik – kritisieren ist einfach und hilft wenig. Machen zählt, engagieren Sie sich, auch im Sinne unserer Gesellschaft. Versuchen Sie, Spuren zu hinterlassen, die Welt zu verändern, durch die Erfindung oder Entwicklung einer Technologie oder eines Systems beispielsweise den Verkehr sicher oder effizienter zu machen. Lassen Sie sich begeistern und begeistern Sie andere durch Ihr Engagement und Ihr Wirken.


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