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Ingenieure im Brückenbau 2023

Schneller als vielleicht gedacht werden deutschlands brücken baufällig. Die Folge: Ewig lange Baustellen. Es wird Zeit mit Innovation und neuen Talenten, den Brückenbau zu reformieren.

»Weit, weit, weit ist es nach Lüdenscheid« – Dass ein äußerst mittelmäßiger Country-Schlager aus den späten Siebzigern heute neue Popularität genießt, ist nur ein skurriles Detail in einer eigentlich ziemlich tragischen Geschichte. Sie handelt von der Infrastruktur des deutschen Straßennetzes und dem vielleicht größten Problem, vor der diese derzeit steht. Unfreiwillige Titelheldin: Die Talbrücke Rahmede auf der A45 bei Lüdenscheid im Sauerland. Sucht man nach dem knapp 80 Meter hohen Bauerwerk bei Google, wird man von einer unübersehbar roten Kachel »Dauerhaft geschlossen« sowie einem Dutzend, oft wütender Bewertungen begrüßt: »Total sanierungsbedürftig«, »Versagen der Verkehrspolitik«. Nach einer Routinekontrolle im Dezember 2021 stellte man erhebliche Mängel an der Brücke fest. Noch am selben Tag kam es zur Sperrung und wenige Monate später zum Entschluss der Sprengung. Die wichtigste Verkehrsader in die Industrieregion Sauerland wurde damit gekappt. Seitdem wird der Schwerverkehr durch kleine Dörfer umgeleitet, was die Nerven der Bewohner nun eine ganze Zeit lang strapazieren wird. Doch natürlich ist diese Geschichte kein Einzelfall. Insgesamt 4.000 der 28.000 deutschen Autobahnbrücken sind sanierungsbedürftig. »Die Mehrheit dieser Brücken sind in den 60er und 70er Jahren gebaut worden, als man sich überhaupt nicht vorstellen konnte, wieviel Schwerverkehr heute über unsere Bauwerke fahren und wie schwer die Lkw geworden sind – von damals 25 auf heute 44 Tonnen und unter Berücksichtigung von Großraum- und Schwertransporten sogar auf 60 Tonnen«, stellt Prof. Christian Lippold fest. Der Ingenieur ist Leiter des Geschäftsbereichs »Planung, Bau, Innovation« bei der Autobahn GmbH des Bundes. Unter deren Obhut steht das 13.000-Kilometer starke Fernstraßennetz inklusive aller 40.000 Ingenieurbauwerke. Was den Brückenbau angeht, so sieht Lippold »für die kommenden 25 bis 30 Jahre einen erheblicher Modernisierungs- und Neubaubedarf«. Klar, dass hier ein großes Potential für die kommende Ingenieur-Generation liegt.

Schneller, Sicherer, Nachhaltiger!

Jetzt soll alles sehr zügig gehen (Apropos: Zu den genannten sanierungsbedürftigen Brücken auf Autobahnen kommen nochmal über 1.000 kritische Fälle im Eisenbahn-Netz hinzu). Jedenfalls plant die Autobahn GmbH, die Zahl der fertig modernisierten Brücken pro Jahr von 200 auf 400 zu steigern. Selbstverständlich sollen diese Sanierungsarbeiten möglichst schnell über die Bühne gehen. Der Akutfall Rahmede kann schließlich überall eintreten. Allerdings muss natürlich auch die Sicherheit ein höchstes Gut sein, um einen Einsturz der Brücke – ähnlich dem im italienischen Genua vor vier Jahren – auf jeden Fall zu vermeiden. Doch auch ein weiteres großes Thema stellt sich als dringliche Herausforderung dar, wie Dr.-Ing. Heinrich Bökamp, Präsident der Bundesingenieurkammer, erkennt: »Wir stehen derzeit vor einer der größten Fragen überhaupt: Wie begegnen wir dem Klimawandel? Denn klar ist, dass das Bauwesen verantwortlich ist für etwa 60 Prozent des weltweiten Ressourcenverbrauchs, für 50 Prozent des weltweiten Abfallaufkommens, für mehr als 50 Prozent der weltweiten Emissionen von klimaschädlichen Gasen und für mehr als 35 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs. Hier gilt es Antworten zu finden! Das gilt selbstverständlich auch für den Brückenbau.« Dabei gehe es unter anderem um ressourceneffizientes Bauen und die Frage, wie man Baustoffe wirksam in den Stoffkreislauf zurückführen könne, erklärt Bökamp weiter. Christian Lippold geht zudem auf die Vereinfachung von Arbeitsabläufen ein: »Dazu zählen zum Beispiel die Einführung von standardisierten Planungen und Bauweisen zur Verkürzung der Planungszeit und zur Reduzierung der Eingriffe in den fließenden Verkehr, die Umsetzung neuer vertragsrechtlicher Modelle, beispielsweise funktionale Ausschreibung, die Verkürzung der Genehmigungsverfahren und kürzere Bauzeiten wie durch den Einsatz von Fertigteilmodulen.«

Raus aus der Fachkräfte-Schlucht

Diese ganzen Herausforderungen wirken noch einmal deutlich größer, wenn man die Lücke an Fachkräften betrachtet, die es wörtlich zu überbrücken gilt. Auch das Bauingenieurwesen – die grundlegende Voraussetzung für eine Karriere im Brückenbau – bildet dabei keine Ausnahme. Umso stärker ist man auf engagierte neue Arbeitskräfte angewiesen. Die entsprechenden Basics aus dem Studium sind dabei klar: Mathe, Physik, Statik und Mechanik müssen Teile des Werkzeugkastens sein. Dazu sollten sich auch eine ganze Menge Soft Skills einreihen. Für Dr. Bökamp liegen diese in »Verantwortungsbewusstsein, Empathie, Teamfähigkeit, Hartnäckigkeit, Engagement, Mut und nicht zuletzt Kommunikationstalent. Gelungene Bauwerke sind nie die Leistung eines Einzelnen. Daher ist es wichtig, sich auszutauschen und gemeinsam nach dem bestmöglichen Ergebnis zu suchen«, so der Präsident der Bundesingenieurkammer. »Dazu gehört es, kooperativ und konstruktiv zu sein, aber mitunter auch kompromissbereit. Die Fähigkeit zur Selbstkritik sollten angehende Ingenieurinnen und Ingenieure ebenso mitbringen, wie die Fähigkeit zur Selbstreflexion.« Des Weiteren empfiehlt Bökamp, sich früh in Ingenieurbüros umzusehen, um dort ganz praktische Luft zu schnuppern, Netzwerke aufzubauen und seine Kommunikations-Skills zu schulen. Diese Fähigkeiten seien für ihn persönlich wichtiger »als die Note in Mathematik oder Statik.« Soviel zu den klassischen Ingenieurfähigkeiten. Doch wie sollte es anders sein, wird kein Tal mehr überwunden ohne, dass die IT im Spiel wäre. Die großen Stichworte der Zukunft heißen hier: CAD-Technologie und vor allem BIM. Die dreidimensionale Modellierung im Digitalen ermöglicht eine übersichtlichere Planung und kann so frühzeitig Fehler verhindern. Auch die Etablierung der Digital-Twin-Technologie würde sich als große Bereicherung für einen nachhaltig sicheren Brückenbau erweisen. Dabei wird vom realen Bauwerk ein exakt gleiches Zwillings-Modell digital programmiert. Eine Vielzahl von Sensoren an der echten Brücke überträgt jeden Mangel und jede Abnutzung an das Modell. So können auch Fehler, die mit dem bloßen Auge nicht erkennbar sind, frühzeitig ausgemacht und behoben werden. Allerdings sind diese Praktiken – wie generell viele BIM-Modelle – noch nicht Arbeitsalltag geworden. »Ein enormes Betätigungsfeld, das derzeit erst am Anfang steht und heute noch gar nicht absehbare Perspektiven bietet«, fasst es Christian Lippold zusammen.

Neue Ufer in Sicht?

Die großen Brückenbaustellen werden in den nächsten Jahren immer zahlreicher und dafür braucht es eine ganze Menge Geduld. Nichtsdestotrotz gibt es innovative Ideen, welche die Erneuerungen sinnvoller, schneller und nachhaltig stabiler machen sollen. Unter anderem: der praktische Versuch wie Brücken aus natürlichen Pflanzenfasern errichtet werden können. Bis 2023 soll als Pilotprojekt ein solcher Fußgängerüberweg in Deutschland errichtet werden. Durch zahlreiche Förderungen und Preise wird die Öffentlichkeit auf spannende, nachhaltige Projekte im Brückenbau aufmerksam gemacht. So wird beispielsweise der Deutsche Ingenieurbaupreis 2022 an die Stadtbahnbrücke in Stuttgart-Degerloch verliehen. In der Jurybegründung heißt es: »Die Netzwerkbogenbrücke mit kohlefaserverstärkten Kunststoffseilen mit Carbon-Hängern ist als Innovation weltweit ein überaus gelungenes Beispiel für die Ingenieurbaukunst und gibt prägende Antworten auf aktuelle Fragestellungen im Bauwesen.« Auch die Auslobung des Deutschen Brückenbaupreises zeugt von der Wertschätzung fortschrittlicher Ideen. Für den Wettbewerb 2023 vergibt die Jury erstmals einen Sonderpreis für Lösungen zum klimaneutralen Bauen. Öffentlichkeitsarbeit wie diese zeigt klar auf, wo die zentralen Anliegen des Brückenbaus von morgen liegen. Das weiß auch Dr. Heinrich Bökamp: »Bauingenieurinnen und Bauingenieure haben damals wie heute einen wesentlichen Anteil nicht nur an der Gestaltung der baulichen Umwelt, sondern auch an der Gestaltung der Zukunft.«


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